Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Über "In Ewigkeit Amen"
In Ewigkeit Amen
Über "Armut"
Armut
Über "Dies Irae"
Dies Irae
Über "Liebe"
Über "Kain"

Armut

Ein Trauerspiel in fünf Akten von Anton Wildgans

 

Gestalten:

Josef Spuller, ein kleiner Postbeamter.

Mathilde, seine Frau.

Gottfried, Oktavaner, sein Sohn.

Marie, Kontoristin, seine Tochter.

Stud. med. Bonifaz Strantz, der Zimmerherr.

Stanck, dessen Kollege.

Dr. Radinovich, Militärarzt i.P.

Der Amtsvorstand.

Vogt, Bediensteter einer Bestattungsunternehmung.

Nuchem Goldsohn, ein Handeljude.

 

Zwischen dem ersten und zweiten Akte liegen mehrere Wochen, zwischen dem zweiten und dritten einige Tage, zwischen dem dritten und vierten ungefähr zwei Wochen. Der fünfte spielt einen Tag später als die Vorgänge des vierten Aktes.

 

 

Actus primus quasi Prooemium

Im Hintertrakte eines alten Vorstadthauses das sogenannte Speisezimmer der Familie Spuller. In Wirklichkeit zwar auch der Raum, in dem gegessen wird, zugleich aber jener, wo Vater und Sohn schlafen. Das Zimmer ist ziemlich weitläufig und niedrig, hat brauneingelassenen Fußboden und altmodisch blaugemalte Wände, macht aber den Eindruck großer Ordentlichkeit. – In der Hintergrundwand links ein Fenster, durch das man in den Lichthof einer Zinskaserne und schiefgegenüber auf das Milchglasfenster eines Abortes blickt, das abends matt erleuchtet ist. In der Fensternische ein hinfälliger Nähtisch. Rechts in der Hinterwand eine einflügelige, weißgestrichene Tür in die Küche hinaus, die zugleich Vorzimmer ist. Zwischen dieser Tür und dem Fenster ein weißer, schwedischer Ofen, auf dem ein ausgestopfter Rabe steht. – In der Mitte der Links- und Rechtswand je eine Tür. Die linke führt in das Kabinett, wo Mutter und Tochter schlafen, die rechte würde die Verbindung mit dem Zimmer des Zimmerherrn herstellen. Es ist jedoch ein roter Lederschlafdiwan vor sie geschoben. Jenseits der beiden Türen links und rechts ein braunpolierter Kasten. – Ganz vorne rechts steht ein alter Sekretär aus gedunkeltem

Kirschholz, ein Familienerbstück im Empirestil. Er ist aufgeklappt und dient als Schreibtisch und Bücherregal. Oben darauf zwei ziemlich angerußte Gipsbüsten Goethes und Schillers, wie man sie bei italienischen Hausierern wohlfeil zu kaufen bekommt. – Ganz vorne links ein gleichfalls altertümliches Bett, über das eine dunkelrote Decke gebreitet ist. Seine Kopflehne ist verhältnismäßig hoch, die Lehne am Fußende ganz niedrig. – In der Mitte des Zimmers ein runder Tisch mit einigen Sesseln. Darüber eine bronzene Hängelampe mit Petroleumlicht. An den Wänden der farbige Öldruck eines landläufigen Marienbildes, ein Bild des Kaisers und eine Pendeluhr, die nur die Stunde schlägt.

Wenn der Vorhang aufgeht, sitzt Gottfried am Mitteltisch, auf dem er Bücher, Hefte, geometrische Zeichnungen und Behelfe ausgebreitet hat. Er hat den Kopf zwischen beide Fäuste, sich die Ohren zuhaltend, gestützt und lernt beim abendlichen Lichte der Hängelampe. Von rechts aus dem Raume des Zimmerherrn tönt allzudeutlich vernehmbar ein roh auf dem Klavier gehämmerter Gassenhauer von einem Walzer.

Gottfried ist ein junger, hochaufgeschossener Mensch von 19 Jahren, blaß, verbüffelt und schlecht genährt. Seine fast schwarzen Haare sind aus der

Stirne gebürstet, seine Gesichtszüge fremdartig, fast häßlich. Er trägt ein ziemlich zusammengestückeltes Gewand: dunkelblaue Hosen, grauen Rock und Weste, billigen, abgetragenen Schlips und niederen, vorne geschlossenen Kragen, über den der dünne Hals mit dem stark hervortretenden Adamsapfel viel zu weit herausragt. Sein ganzes Aussehen hat, verstärkt durch den unregelmäßigen Bartanflug, etwas Vogelartiges.

Während Gottfried lernt, tritt seine Schwester Marie in einfachem, aber nicht ungefälligem Strassenkleid, mit dem Hut auf dem Kopfe, herein. Sie ist mittelgroß, schmächtig, blaß, bronzeblond, voll sanften Liebreizes, ungefähr 22 Jahre alt und trägt eine schlicht-mädchenhafte Frisur, hat große Augen und feingliedrige Hände und Füße. Sie bringt ein paar Blumen, in Papier eingeschlagen, mit. Während des ersten Hin und Widers des Dialogs legt sie ihre Überkleider ab, bindet eine Schürze um und wickelt die Blumen aus dem Papier.

 

MARIE deren ganzes Wesen irgendeine freudige Spannung verrät. Guten Abend, Gottfried. Noch lernen?

GOTTFRIED mißvergnügt. Auch das noch! Geschraubt. Guten Abend, mein Goldfasan.

MARIE lächelnd. So steht es heute mit dir?

GOTTFRIED ein wenig nachäffend. Jawohl, so steht es! Es möchte kein Hund so länger leben!

MARIE streichelt ihm den Kopf. Glaub dir's. Armer Kerl.

GOTTFRIED. Und dazu noch das ewige Tastengetrampel dieses besoffenen Idioten, Gestus nach der Tür rechts. dem man nicht einmal »Kusch!« hinüberrufen kann, weil die Miete, die er zahlt, ein Bestandteil des Familieneinkommens ist. Nervös. Ich habe einfach nicht die Nerven, um den pythagoreischen Lehrsatz mit Klavierbegleitung zu studieren!

MARIE. Ich weiß wirklich nicht, warum die Mutter das duldet. Sie könnte dem Zimmerherrn ganz gut nahelegen, daß er weniger Musik macht.

GOTTFRIED. Sag ihr das! Da wirst du schön ankommen. Sie ist ja ganz versessen auf diesen Kerl, weil er einen reichen Vater hat. Am liebsten würde sie dich mit ihm verkuppeln!

MARIE ablehnend. Davon habe ich noch nichts bemerkt.

GOTTFRIED ironisch. Aber geh, Unschuld vom Lande du!

MARIE mit einer gewissen Erregtheit. Jedenfalls habe ich auch noch meinen Willen.

GOTTFRIED vertraulich. Sag mir einmal, Maria, hat dir der Bursche eigentlich noch nie irgendwie nahetreten wollen, hm?

MARIE ärgerlich. Jetzt schweig!

GOTTFRIED trocken. Du bist erregt, du leugnest, dieses genügt mir. Ich werde den Mann erschlagen.

MARIE hell auflachend. Schon wieder eifersüchtig?

GOTTFRIED. Dieses Wort lehne ich ab. Gefühle mit inzestuosem Beigeschmack liegen mir gänzlich ferne.

MARIE. Was heißt das?

GOTTFRIED. Nichts, was du zu wissen brauchst.

MARIE. Auch recht. Jetzt sei aber so gut und räum den Tisch ab!

GOTTFRIED. Wozu? Ich habe noch zu büffeln.

MARIE. Mir scheint, du weißt gar nicht, daß heute dem Vater sein Geburtstag ist. Sie räumt ohne Umstände Gottfrieds Sachen auf den Sekretär hinüber.

GOTTFRIED. O doch! Ich erfuhr es im Laufe des Tages durch eine gehässige Bemerkung unserer Frau Mutter, welche behauptete, daß solche Feste bei armen Leuten keinen Sinn haben, worin ich ihr beipflichte.

MARIE. Das kenn' ich schon. Du legst ihr solche Bemerkungen in den Mund.

GOTTFRIED. Diese Behauptung beruht auf einer psychologisch falschen Beobachtung. Wahr hingegen ist, daß ich bisweilen Mutters geheimsten Gedanken das Gewand meiner klassischen Ausdrucksweise leihe. Aber warum tue ich das, meine Taube?

MARIE während des Tischdeckens. Laß hören!

GOTTFRIED scherzhaft pointierend. Sehr einfach! Käme sie nämlich dazu, ihre Gedanken selbst auszusprechen, so würde dies zumeist ungemütlich und das Familienleben vergiftend sein. Indem ich ihr nun zuvorkomme und meiner Formulierung ihrer Gedanken ein Quentchen meines göttlichen Humors beimenge, bewirke ich, daß die Wechselbälge ihrer Bosheit als gutgeartete Kinder zur Welt kommen, und erziele heitere Wirkungen. Womit ich mir den Dank und die Anerkennung aller Hausgenossen zu verdienen glaube. Dixi.

MARIE. Wahr ist es schon, du bist der einzige bei uns, der einen manchmal zum Lachen bringt. Mach nur heute abends auch gute Stimmung!

GOTTFRIED. Ich will es. Zumal, wie es scheint, ein Geburtstagsmahl gerüstet wird! Wie lauten die köstlichen Gänge?

MARIE. Ich glaube nicht, daß sich die Mutter besonders angestrengt hat. Dafür habe ich Blumen mitgebracht.

GOTTFRIED mit komischer Geschraubtheit. Blumen im mensis Decembris?! Du scheinst außer deinem Monatsgehalt bei der Firma Kohn & Schickele, Verwertung für Textilabfälle, noch andere unehrenhafte Einkünfte zu haben, he?

MARIE übermütig. Hab' ich auch!

GOTTFRIED auf sie zu. Oho, dergleichen verbiete ich! Ich will nicht den Biergeruch fremder Männer von deinen Lippen trinken, falls mich nach ihnen gelüstet. Es kann auch Wein, Tobak oder Karies sein, wonach sie duften. Laß mich dich beschnuppern! Gestus. Ich habe die Nase eines Botokuden. Ich wittere aus deinen Schläfenhaaren, ob es ein Kommis war, der dich geküßt hat, oder ein Leutnant, welcher in der Regel nach Juchten riecht, oder ein Staatsbeamter. Ein solcher entströmt das Odeur von gilbendem Papier, Staub, Tinte und desinfizierten Spucknäpfen. Marie loslassend, mit gesenkter Stimme, leiernd. Womit ich nichts gegen meinen bedauernswerten Vater gesagt haben will, der seit einunddreißig Jahren in jener Atmosphäre der Amtslokale dahinfristet, allwo freudlose Existenzen im Zustande eines pensionsberechtigten Hinsterbens liebreich erhalten werden.

MARIE plötzlich ernst und bekümmert. Findest du, daß der Vater schlecht aussieht?

GOTTFRIED mit posierter Sachlichkeit. Gewiß finde ich das.

MARIE unwillig. Nein, du! Hör jetzt auf zu spaßen!

GOTTFRIED wie oben. Wie sollte dies auch anders sein, da sich der Gute nach seinem letzten Krankenlager keine Schonung gegönnt hat und sicher lich unterernährt ist.

MARIE traurig. Unterernährt, sagst du?

GOTTFRIED skandierend. Unterernährt, sage ich. Mit gesenkter Stimme und grimmigem Humor. Wohingegen unsere Frau Mutter erklären würde: er hat halt keinen Appetit! Womit auch sie in ihrer Art – vor der mich Gott behüten möge – recht hat. Wie aber sollte auch ein Mensch, der täglich zwölf Stunden Bürodienst macht –? Aber lassen wir das.

MARIE bekümmert. Wenn er sich, wie in früheren Jahren, wenigstens an Sonntagen Luft und Bewegung gönnen möchte! Da hat er jetzt noch diese Abschreibearbeit übernommen –

GOTTFRIED mit beherrschtem Ingrimm. Diurnistenarbeit, jeden Tag bis in die Nacht hinein!

MARIE. Und alles für uns, für die Familie. Für sich braucht er nichts, rein gar nichts mehr.

GOTTFRIED verbissen. Und zusehen muß man, zugeben muß man es mit gebundenen Händen! Ein Schulbub sein und den alten verbrauchten Mann arbeiten lassen! Oft treibt es mir die Scham ins Gesicht. – Mit weicherem Tonfall. Hast du bemerkt, daß er sich das Rauchen abgewöhnt hat?

MARIE unsicher. Weil es ihm schadet –

GOTTFRIED. Vielleicht schadet es ihm auch. Aber deswegen läßt er es nicht bleiben.

MARIE bang. Du glaubst, um zu sparen?

GOTTFRIED tief. Ich weiß es, denn manchmal –

MARIE dringlich. Was? Sag es!

GOTTFRIED errötend. Ach, nichts.

MARIE. Sag es! Ich sag' dir dann auch was.

GOTTFRIED erst stockend, dann immer natürlicher. Manchmal, weißt du, hab' ich ihn schon beobachtet, wie er nach dem Nachtmahl jenen Kasten dort aufmacht, als wenn er darin etwas suchte. Dort hat er nämlich noch eine leere Zigarrenschachtel stehen. In die riecht er heimlich hinein und dann – schließt er den Kasten wieder, geht ein paarmal pfeifend durchs Zimmer ...

MARIE bewegt. Das hast du gesehen?

GOTTFRIED eifrig. Zwei-, dreimal schon ... Und dann lächelt er dir immer so schelmisch vor sich hin, als hätte er der ganzen Welt ein Schnippchen geschlagen mit seinem Verzicht. Mit gemachtem Ausdruck, aber echtem Gefühl. Es ist zum Weinen, Maria!

MARIE wehmütig, leise. Hätt' ich doch statt der Blumen ...

GOTTFRIED. O nein! Blumen auf dem Tische des Armen –!

MARIE mit holder Freude. Du, ich habe aber auch etwas sehr Nützliches für ihn! Eine schwarze, dicke Wolljoppe habe ich ihm gestrickt, eine ganz dicke! Weißt du?

GOTTFRIED verschämt. Aha –

MARIE. Sein Winterrock ist nämlich gänzlich kaputt.

GOTTFRIED. Darum trägt er jetzt Anfang Dezember noch immer seinen Sommerüberzieher –

MARIE. Und darunter wird er von morgen an die Wolljoppe anhaben. Selig. Das wird warm sein!

GOTTFRIED leise, tief. Du gutes, liebes Ding, sowas wäre seiner Frau niemals eingefallen. Er hätte eine andere Frau haben sollen. So eine, wie du bist. Ganz genau eine, wie du bist, möchte auch ich einmal haben.

MARIE leise, innig. Ganz die gleiche?

GOTTFRIED nickt mehrmals, zieht Marie an sich und küßt sie auf die Stirne. Aber noch während er sie hält, zwingt er aus seinem Gesichte die Rührung und in seine Worte den geschraubten Ton. Mein Goldfasan – mein Kakadu – meine Taube!

MARIE leise. Versprichst du mir, heute abend lieb zu sein, mit allen – auch mit der Mutter?

GOTTFRIED trocken. Ich will mich an die puerilen Zeiten erinnern, wo ich in diese Frau noch buchstäblich verliebt war. Vielleicht gelingt es mir dann. – Da kommt sie! Gott steh' mir bei! Er nimmt von dem Sekretär ein Buch, die Schulaufgabe des Horaz, und beginnt im Auf- und Abgehen zu memorieren.

Exegi monumentum aere perennius

Regalique situ pyramidum altius ...

 

Da capo.

Die Mutter tritt auf. Sie ist in ärmlicher, aber netter Straßenkleidung, die sie gleich nach dem Eintreten ablegt. Auf den ersten Blick fällt die Ähnlichkeit auf, die Gottfried mit ihr hat. Sie ist ungefähr 46 Jahre alt, mittelgroß, hager, knochig. Ihr verhärmtes Gesicht trägt trotz seines harten Ausdruckes die Spuren einer ehemaligen eigenartigen Schönheit. Man möchte sie mit ihrem reichen schwarzen, doch schon vielfach angegrauten Haar für eine Südslawin, etwa eine Kroatin, halten. Demgemäß ist auch ihre Aussprache des Deutschen etwas fremdartig.

 

MARIE herzlich. Guten Abend, Mutter.

GOTTFRIED mit übertriebener Freundlichkeit. Gesegneten Abend, Mutter. Memoriert auf- und abgehend halblaut weiter.

MUTTER an den Tisch tretend, den Marie sehr hübsch gedeckt und mit Blumen geschmückt hat, bitter. Schön. Sehr schön. Blumen! – An meinen Geburtstagen wird der Tisch nicht geschmückt.

MARIE lieb, begütigend. Du hältst ja nichts darauf, Mutter.

MUTTER schneidend. Würde mir auch nichts nüt zen. – Herrisch. Ist beim Zimmerherrn schon aufgeräumt, Bett gemacht, Wasser nachgefüllt? Muß ich das wieder selber richten?

MARIE. Das tu' ich doch immer erst, wenn er abends ausgegangen ist.

MUTTER gereizt. Sind deine Aufgaben schon gemacht, Gottfried?

GOTTFRIED leiernd. Der Mensch hat auch andere Aufgaben als seine Aufgaben zu machen, wofern er nicht die Aufgabe seines Geistes allen anderen Aufgaben vorzieht. Demonstrativ weitermemorierend.

Annorum series et fuga temporum.

Non omnis moriar, multaque pars mei ...

 

Da capo.

 

MUTTER noch gereizter. Seit wann wird beim Lernen auf- und abmarschiert?

GOTTFRIED liebenswürdig. Ich tue dies, um die rückwärtige Fassade meiner Hose zu schonen, als welche bereits derart transparent ist, daß ich mir aus ihr kommenden Frühlings werde ein Schmetterlingsnetz anfertigen können. Memoriert weiter.

MUTTER verbissen. Hat sie schon wieder ein Loch?

GOTTFRIED. Eines? Sie verfügt über ein ganzes System von solchen. Burlesk. Würdest du sie des Abends gegen eine Lampe halten, es dünkte dich, einen Blick in die Sternenwelt zu tun. Mit großen Gebärden. Venus – Jupiter – Juno – der Große Bär – Ariadne –!

MUTTER. Ich werde dir geben: Sternenwelt! Sie schlägt nach seinem Gesicht.

GOTTFRIED fängt ihre Hand blitzschnell ab. Es wäre ohnehin nur eine Tiefquart gewesen. Mach dir nichts daraus, Mutter.

MARIE unwillig. Laß ihn doch lernen! Sonst muß er wieder bis in die Nacht hinein büffeln – Sie entfernt sich während der folgenden Szene in die Küche.

GOTTFRIED das Folgende wie eine abgeleierte Rolle herunterschnatternd. Und Petroleum brennen, welches von Tag zu Tag teurer wird! Scandet cum tacita virgine pontifex ...

MUTTER immer mehr in Zorn geratend. Faulenzer! Erst zu lernen anfangen, wenn andere Leute schlafen gehen –!

GOTTFRIED. Und noch immer nichts verdienen, während meine Schwester bereits seit drei Jahren bei der Firma Kohn & Schickele mit siebzig Kronen monatlich angestellt ist; welche sie an jedem Ersten pünktlich an den Familienfonds abzuliefern hat!

MUTTER. Und du? Nicht einmal dein Taschengeld verdienst du dir! Läßt sich noch immer von seinen Eltern erhalten!

GOTTFRIED. Weswegen es gescheiter gewesen wäre, mich ein ehrliches Handwerk lernen zu lassen, auf daß ich das sogenannte Bildungsproletariat nicht um eine hungrige Null vermehre!

MUTTER außer sich. Ja, Handwerker! Schamlos! Mein Vater Offizier, mein Sohn Taglöhner!

GOTTFRIED komödiantenhaft, aber innerlich doch in ehrlicher Verzückung. Taglöhner, Arbeiter, Handwerker! Heilige Dreifaltigkeit ungeahnten Genügens! Des Morgens aufstehen und das Ding vor Augen haben, an das man seine Hände legen wird in Gottes Namen! Seines Schweißes sicher sein am heiligen Mittag, seines Schlummers gewiß des Feierabends! Nicht aufschrecken müssen aus dem Schlafe der Nacht beim Gedanken: morgen wirst du um Dinge gefragt, die dein Gehirn nur aufnimmt, um sie bald – ach, wie bald! – restlos wieder zu erbrechen!

MUTTER höhnisch. So wärest halt Anstreicher geworden! Der Vater deines Vaters war ja auch nichts Besseres.

GOTTFRIED einen Augenblick aufbrausend, dann gleich wieder demütig. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebest und es dir wohlergehe auf Erden.

MUTTER unter seinem Blick etwas unsicher. Daß du das noch weißt!

GOTTFRIED ruhig, grausam. Wie aber dann, wenn einer auf langes Leben verzichtet, seinen Vater ohnehin ehrt und das mit dem Wohlergehen auf Erden sowieso eine faule Sache ist?

MUTTER empört. Dann ist es besser, wenn er hingeht und sich aufhängt, bevor er seinen Eltern noch mehr Auslagen macht.

GOTTFRIED kühl. Was ich jedoch unterlassen werde, um meinem guten alten Vater Kummer und Schande zu ersparen.

MUTTER bitter, aber mit einem Anflug echten Schmerzes. Dem Vater, immer nur dem Vater –

GOTTFRIED nicht ungerührt, tief. Wenn du mir doch den Rat gibst, mich zu erdrosseln, wie soll ich annehmen, daß ich dir damit Kummer bereiten würde, ha?

MUTTER wie oben. Alle die Mühe, die Sorge –

GOTTFRIED. Und das viele Geld –!

MUTTER. Jawohl, soll das vielleicht für nichts verwendet worden sein?

GOTTFRIED ironisch. Gebiete deinen Tränen, Mütterchen! Ich bleibe dir ohnehin erhalten. Denn siehe, mich freut dieses Leben, wenn ich auch – ein Krüppel und wahrscheinlich zum Waffendienste untauglich bin.

MUTTER mit empörtem Mutterstolz. Wieso denn ein Krüppel?

GOTTFRIED. Vielleicht nicht? Sich komisch demonstrierend. Engbrüstig, kurzsichtig, kropfhalsig! Fehlen nur noch die Plattfüße, die Krampfadern und der Leistenbruch.

MUTTER wie oben. Du solltest dich nicht versündigen!

GOTTFRIED mit galanter Verbeugung. Du hättest dich nicht versündigen sollen, liebe Mutter! Da wäre ich wenigstens nicht auf der Welt!

MUTTER. Besser wär's.

MARIE tritt vom Hintergrunde rechts ein und läßt die Türe hinter sich offen. Der Vater kommt!

 

Sie eilt ein freudiger Erwartung zum Tische und schiebt noch rasch einiges zurecht.

Mutter im Vordergrunde links, Gottfried im Vordergrunde rechts, haben beide den Blick auf die Tür gerichtet. Die Mutter ruhig, Gottfried nicht ohne Anzeichen von Spannung.

Josef Spuller, der Vater, tritt auf. Er hat seine Überkleider schon draußen abgelegt und trägt einen ärmlichen, dunklen Anzug. Spuller ist eine mittelgroße, ursprünglich kräftige Erscheinung, die jedoch reduziert ist. Er hat noch volles, seitwärts gescheiteltes, aber schon ganz silbergraues Haar und ebensolchen Schnurrbart, der ihm ziemlich wirr herabhängt.

Bei seinem Eintritte verweilt er einen Augenblick

unmerklich am Türpfosten lehnend. Es erscheint aber mehr wie ein unbeabsichtigtes Anstreifen. Dann erst tritt er mit mühsam-festen Schritten ins Zimmer. Nun merkt man eine gewisse Unsicherheit in seinem Gange. Er ist auffallend blaß.

 

SPULLER durch seine Brille lächelnd. Guten Abend, alle.

MUTTER die ihn prüfend ansieht. Grüß Gott, Josef.

GOTTFRIED der beim Anblick des Vaters zusammengezuckt ist, sich aber gleich wieder gefaßt hat, möglichst unbefangen. Willkommen, Vater.

SPULLER unsicher lächelnd. Was seht ihr denn an mir?

GOTTFRIED überstürzt. Nichts. Mühsam lustig. Nicht einmal die siebenundfünfzig Jahre, die du heute alt bist.

SPULLER wehmütig. Heute? Er setzt sich, seine Schwäche beherrschend, auf den Sessel rechts am Mitteltisch. Dann halb für sich. Gerade heute – Lauter. Mein Geburtstag. Sich zusammennehmend. Da soll man ja fröhlich sein! Da Marie ihn von rückwärts stürmisch umschlingt und liebkost, sanft abwehrend. Na, na, Mädel! Ich will ja meinen nächsten Geburtstag auch noch erleben, nicht? Er ergreift ihre Hand mit seiner Linken, die Rechte streckt er der Mutter hin und sagt mit scheuer Freundlichkeit. Mathilde? Gibst du mir nicht auch die Hand?

 

Mutter reicht ihm in ihrer verschlossenen, scheinbar widerstrebenden Art die Hand, die er küßt. Sie erwidert einen Augenblick seinen melancholisch-fragenden Aufblick. Dann entzieht sie ihm die Hand und macht sich im Zimmer zu schaffen.

 

GOTTFRIED leise, mit grotesker Förmlichkeit. Lieber Vater, obwohl ich theoretisch der Überzeugung huldige, daß ein Geburtstag im allgemeinen und im besonderen eigentlich eine melancholische Angelegenheit ist, möchte ich praktisch denn doch nicht den einigermaßen seltenen Moment versäumen, um –

SPULLER mit schwachem Lächeln abwinkend. Ich weiß schon, was du sagen willst, Gottfried. Dank' dir. Sei nur fleißig und mach deinen Eltern Freude!

GOTTFRIED den Vater immer beobachtend, grotesk. Amen. Schreiten wir also frohen Mutes zur Bescherung.

SPULLER beinahe ängstlich. Ihr habt euch doch keine Auslagen gemacht, Mutter?

MUTTER herb. Ich nicht. Ich halte das Geld zusammen für ernstere Anlässe.

SPULLER trüb. Hast recht. Braucht nur eins krank zu werden –

MARIE mit einer schwarzen Wolljacke kommend, leuchtend, verschämt. Nur eine Kleinigkeit. Kostet bloß die Wolle. Gestrickt hab' ich's ja selber.

SPULLER mit liebevollem Vorwurf. Wieder in den Nächten!

 

Marie senkt den Kopf und kniet zu des Vaters Füßen hin.

 

SPULLER ihre Haare streichelnd. Kind, wie oft hab' ich dich gebeten: keine Nachtarbeit für mich! Was soll denn sonst aus den lieben, armen Augen werden? Unsereins muß auf seine fünf Sinne achtgeben. Kann doch sein, daß einmal so ein Ohr oder Aug' – mehr als bisher! – verdienen muß. Unser Körper ist doch unser Vermögen, nicht wahr?

MARIE lieb-anzüglich. Handelst du auch immer nach dieser Lehre?

 

Die Mutter hat die letzte Szene zwischen Spuller und Marie stumm und mit einem bitteren Ausdrucke des Ausgeschlossenseins beobachtet und sich während der letzten Rede Spullers unauffällig nach links entfernt.

 

GOTTFRIED hingebeugt, geheimnisvoll. Weißt du auch, was das für ein Ding ist, Vater, das du in Händen hältst?

SPULLER es lächelnd betastend. Kann mir's schon denken.

GOTTFRIED zu erheitern bemüht. Das glaube ich nicht! Denn dieses Ding ist ein gar mysteriöses Ding. Ist es ein Rock? Nein. Ist es ein Überrock? Nein. Am Ende ist es gar eine Art Mittelding von beiden! Indem es zwar über dem Rock, aber unter dem Überrock getragen werden soll, insonderheit wenn letzterer ein Sommerüberzieher und die Temperatur ziemlich unter Null ist!

SPULLER. Jetzt versteh' ich erst. Dank' dir, Marie! – So gibt es also doch noch immer Geschenke.

GOTTFRIED immer zu erheitern bemüht. Woferne arme Leute überhaupt in die Lage kommen, einander etwas zu geben, was man Geschenk nennen kann.

SPULLER sanft. Wie meinst du denn das, Gottfried?

GOTTFRIED wie oben. Indem nämlich arme Leute bei sogenannten festlichen Anlässen einander nur solche Dinge schenken können, die sie ohnehin auf jeden Fall haben müssen.

SPULLER mit gütiger Überlegenheit. Erlaube einmal! Freust du dich denn nicht, wenn du zum Beispiel zu Weihnachten etwas bekommst, was du notwendig brauchst?

GOTTFRIED ein wenig beschämt. Ich schon, Vater.

SPULLER wie oben. Da bist du doch eigentlich besser daran als die reichen Leute. Denn dir können sogar Sachen eine Freude machen, die jenen gar nichts bedeuten, weil es für sie selbstverständlich ist, sie zu haben. Da hast du doch viel mehr Gelegenheit, dankbar und froh zu sein, nicht? Schau es einmal von dieser Seite an und sag mir dann morgen, was dir dazu eingefallen ist! Lächelt schelmisch vor sich hin.

GOTTFRIED gerne ablenkend, zitierend. Kann euch nicht eben ganz verstehen.

SPULLER.

Das wird nächstens schon besser gehen,

Wenn ihr lernt alles reduzieren

Und gehörig klassifizieren –

MARIE mit holdem Übermut.

Mir wird von alle dem so dumm,

Als ging' mir ein Mühlrad im Kopf herum.

 

Alle drei in arm-seliger Heiterkeit.

 

SPULLER. Bravo, unseren Faust können wir! Das ist doch auch eine Art – Millionenbesitz ... Tastet plötzlich vor sich hin und sinkt mit geschlossenen Augen zurück. Das gedämpftfröhliche Lachen Gottfrieds und Maries bricht mit einem Schlage entzwei.

MARIE schnellt empor. Was ist dir denn, Vater?

GOTTFRIED eilig herzu, Spuller umfangend, mit erzwungener Ruhe. Ist euch nicht wohl, Vater?

SPULLER allmählich zu sich kommend. Mir ist – wirklich nicht – wohl, Kinder. Mir war schon nachmittags – im Amt – nicht wohl ...

MARIE springt auf, läuft von einer Tür zur andern und ruft in höchster Angst. Mutter – Mutter!

MUTTER im Hereinkommen, mehr mit bitterem Triumph als Erschrockenheit. Hab' ich mir's doch gedacht!

SPULLER hilflos, vom Fieber geschüttelt. Sei mir nicht bös, Mutter – sei mir nicht bös – ich kann ja nichts dafür – daß ich krank werde –

MUTTER bereits an der Arbeit, ruhig. Ich mach' dir schon dein Bett, Josef.

 

Marie zieht dem Vater die Schuhe aus.

 

GOTTFRIED ihn an der Hand haltend, leise, erschüttert. Polarstürme schütteln den armen Körper.

SPULLER. Habt nur keine Angst, Kinder – Mutter! Plötzlich selbst angstvoll. Es wird doch nichts – Gefährliches sein – nichts Gefährliches –?

MUTTER herb. Was kommt, muß getragen werden.

SPULLER. Wie wir schon so vieles zusammen getragen haben.

MUTTER wie oben. Manches. – Das Bett ist gemacht. Komm!

GOTTFRIED bebend. Praesente medico nihil nocet. – Soll ich nicht einen Arzt holen, Mutter?

MUTTER dumpf. Warte, bis man dir's schafft!

SPULLER während er von Mutter und Tochter entkleidet wird, fiebergeschüttelt, flehentlich. Keinen Arzt – keinen Arzt! Nur nicht gleich einen Arzt! Das kostet ja so viel Geld – Geld – Geld! – Mit erschütternd gütiger Stimme. Siehst du, Marie, dein Geburtstagsgeschenk ist doch um ein paar Tage – zu spät gekommen –

GOTTFRIED mit schmerzlicher Ironie in der wankenden Stimme. Vielleicht wäre es doch gut, bisweilen einen Winterrock zu besitzen.

 

Der Vorhang fällt.

 

 

Actus secundus

Incipit Tragoedia

 

Szenerie wie im ersten Akte, nur an Stelle des Bettes vorne steht jetzt ein alter, engbrüstiger Schlafdiwan. Es ist Abend.

Mutter sitzt am Mitteltisch und flickt Weißzeug. Einmal steht sie auf und horcht an der Tür des Kabinetts, wo Spuller krank liegt. Dann setzt sie ihre Arbeit am Tische wieder fort.

Marie tritt aus dem Vorzimmer ein. Sie ist in Straßenkleidern, sieht blaß und verhärmt aus, und eine mühsam zurückgehaltene Hastigkeit ist in ihrem Wesen.

 

MARIE. Schläft der Vater?

MUTTER. Soeben eingeschlafen.

MARIE. Hat er gegessen?

MUTTER mit einer Art boshaften Triumphes. Zwei Bissen.

MARIE erschrocken. Das andere wieder stehengelassen?

MUTTER wie oben. Natürlich.

MARIE gequält. Mein Gott, Mutter! Er tut es doch nicht zu Fleiß.

MUTTER scharf. Das brauchst du mir nicht zu sagen.

MARIE noch erregt. Weil es auch wahr ist –

MUTTER. Jetzt dauert diese Krankheit schon sieben Wochen, und an wem geht es denn aus? An dir vielleicht oder an Gottfried?

MARIE. Ich bin unter Tags im Geschäft, Gottfried ist in der Schule. In der Nacht löse ich dich ohnehin soviel als möglich ab.

MUTTER etwas beschämt. Das ist das wenigste.

MARIE. Und sonst? Gottfried gibt jetzt Lektionen, und ich –

MUTTER gehässig. Brauchst mir's nicht unter die Nase zu reiben, daß du deinen ganzen Gehalt hergibst!

MARIE. Das fällt mir ja gar nicht ein.

MUTTER. Dafür habe ich das Silberzeug, das einzige Wertvolle, was noch von meinen Eltern da war, ins Versatzamt getragen.

MARIE. Das löse ich dir aus, wenn es wieder besser steht.

MUTTER. Das habe ich noch nicht erlebt, daß es besser geworden wäre. Im Gegenteil, immer hat man gedacht: jetzt kann es doch nicht ärger kommen. Und dann war es doch noch möglich.

MARIE nach kurzer, banger Pause, schwer. Ich war übrigens – beim Trödeljuden.

MUTTER mit Überwindung. Kommt er?

MARIE tonlos. Ja.

MUTTER zögernd. Hast du ihm auch gesagt, daß er erst nach Einbruch der Dunkelheit kommen soll.

MARIE. Ja, und die Türnummer hab' ich ihm auch genau angegeben, damit er nicht erst im Haus nach uns herumfragt. – Weiß Gottfried schon, daß sein lieber alter Sekretär verkauft wird?

MUTTER ironisch. Wo es sich darum handelt, daß sein Vater die nötigen Medikamente und die teuere Krankenkost bekommt, wird er wohl nichts dagegen haben. Wenn ich krank würde, wäre das etwas anderes.

MARIE. Das glaubst du doch selber nicht. Wir Kinder haben dich gerade so lieb wie den Vater. – Du selbst bist es ja, die abweist –

MUTTER verschlossen. Das kann schon sein, daß mich ein Leben voll Kummer und Enttäuschungen abweisend gemacht hat. Eine Träumerin, die Gedichte liest und für das Leben nichts taugt, bin ich freilich nicht. Ich hab' nur einmal in meinem Leben einen Unsinn gemacht –

MARIE gequält. Daß du den Vater geheiratet hast, ich weiß.

MUTTER. Und diesen Unsinn habe ich bitter genug bezahlt. Für ein armes Mädchen gehört sich das nicht: aus Liebe heiraten. Merk dir das!

MARIE herb. Es muß ja nicht geheiratet sein.

MUTTER höhnisch. Außer das!

MARIE. Lassen wir das, Mutter.

MUTTER lauernd. Der Witwer, der unser voriger Zimmerherr war, hätte dich genommen, wie du bist. Und war vermögend!

MARIE peinlich berührt. Das höre ich nicht zum erstenmal.

MUTTER aufgebracht. Wäre das gar so schrecklich, wenn du jetzt für deinen kranken Vater etwas tun könntest? Der Witwer war ein seelensguter, honetter Mensch. Er hätte für seinen Schwiegervater alles getan, hätte ihm rechtzeitig einen Aufenthalt im Süden ermöglicht und – manches wäre anders gekommen.

MARIE leise. Einen Aufenthalt im Süden – Plötzlich qualvoll. Hab' ich denn wissen können, daß der Vater so schwer krank werden wird?

MUTTER. Darauf muß unsereins immer gefaßt sein. Wir leben doch nur von der Hand in den Mund, und wenn das Geringste über uns kommt, stehen wir gleich immer am Rande des Elends.

MARIE mit gemachter Unbefangenheit. Hat übrigens unser – jetziger Zimmerherr schon seine Miete bezahlt?

MUTTER sie scharf ansehend. Nein. Wie kommst du darauf?

MARIE leichthin. Es fällt mir eben ein, weil wir von Zimmerherren sprechen.

MUTTER. Ich soll ihn wohl mahnen?

MARIE. Das könnte nicht schaden.

MUTTER. Vermögende Leute lassen sich nicht gern mahnen.

MARIE. Wenn einer das Geld sonst so freigebig hinauswirft –

MUTTER. Was weißt du davon? Was geht es dich an, was er mit seinem Gelde macht? Schuldig ist er uns noch nichts geblieben. Überhaupt, ich finde dein Benehmen ihm gegenüber, offen gesagt, sehr dumm. Man kann doch wenigstens freundlich sein, wo man abhängig ist.

MARIE zurückhaltend. Das weiß nicht jeder richtig aufzunehmen.

MUTTER höhnisch. Du bildest dir wohl sehr viel ein auf deine unwiderstehliche Schönheit?

MARIE. Das tu' ich sicherlich nicht, aber es gibt Leute, die glauben, daß in dem Zimmerpreis – die Haustochter inbegriffen ist.

MUTTER. Schämst du dich nicht?

MARIE gequält. Ich? – Ich bin ja nicht dieses Glaubens. Ich mache ja diesem Glauben keine Zugeständnisse.

MUTTER empört. Das sähe dir ähnlich!

MARIE rauh. Oder soll ich?

 

Es läutet draußen.

 

MUTTER aufgeregt. Das wird der Jude sein. Mach auf!

 

Marie ab.

Nuchem Goldsohn tritt, von Marie gefolgt, auf. Er ist ein kleiner, etwas buckeliger Jude in verschmierten, dunklen Gewändern. Er hat den Pinkel geschultert, den runden, steifen Hut in der Hand. Haar und Vollbart sind kohlschwarz, ebenso die kleinen, behenden Augen. Er hat devote Bewegungen und spricht polnisch-jüdischen Jargon mit singendem Tonfall.

 

GOLDSOHN. Schönen guten Abend, gnädige Frau. Erlauben schon, daß ich ablege meinen Pinkel. Vertraulich. Niemand hat mich gesehen im Haus. Gleich hab' ich gefunden die Tür, wo das schöne Fräulein hat beschrieben. Diskretion Ehrensache. Können beruhigt sein. Unsereins hat was erlebt, unsereins kommt mit die nobelste Leut' in Berührung: Offiziere, Barone, Grafen sogar! Romane könnte man schreiben. Macht sich mit hündischen Bewegungen heran, um der Mutter die Hand zu küssen.

MUTTER ihm die Hand entziehend. Lassen Sie nur!

GOLDSOHN küßt ihre Hand dennoch. Daß wir machen ein gutes Geschäft, daß ich verdien' ein paar Kreuzer mit Ihnen! In Gottes Namen. Mit was kann ich dienen?

MUTTER mit Überwindung. Ich hätte ein wertvolles Möbelstück zu verkaufen, einen Sekretär, der über hundert Jahre in der Familie ist.

GOLDSOHN mit gespieltem Bedauern. Schade.

MUTTER. Wieso?

GOLDSOHN. Da sind Sie, bedauer' ich, bei mir nicht an der richtige Adress'. – Ich kauf' Kleider, Schuhe, Silberzeug, wenn Sie haben, Leuchter, Musikinstrumente. Mit Möbeln handeln andere, nicht ich.

MARIE. Sie haben mir heute doch selbst gesagt, daß Sie alte Möbel kaufen!

GOLDSOHN listig. Gut, hab' ich gesagt. Wenn ich aber sag' »alte Möbel«, so mein' ich moderne Möbel in abgenutztem Zustand: eiserne Betten, Korbsessel, eine Kredenz oder ein Kanapee zum Schlafen, wenn Sie haben. Ein Sekretär, hundert Jahre alt, ist ein antikes Möbel. Das kauft Ihnen der Antiquitätenhändler ab, nicht der Pinkeljud'.

MUTTER. Dann muß ich mich eben an jemand anderen wenden.

GOLDSOHN umsattelnd. Anschaun, wenn Sie wollen, kann ich mir ja das Stück.

MUTTER. Nicht nötig.

GOLDSOHN. Na, anschaun werden Sie mir doch lassen!

MUTTER. Es hat ja doch keinen Zweck, wenn Sie nicht kaufen.

GOLDSOHN. Wer hat gesagt, daß ich nicht kauf'? Wenn schon nicht für mich, so vielleicht für einen anderen, für einen Geschäftsfreund.

MUTTER. Dann soll der andere selber kommen.

GOLDSOHN vertraulich. Wollen Sie haben, daß die Handeljuden ein- und ausgehen bei Ihnen wie die Kundschaft beim Bäcker? – Na, sehen Sie.

 

Mutter nimmt nach einigem Überlegen die Lampe vom Tisch und stellt sie auf den Sekretär.

 

GOLDSOHN auf den Sekretär zu. Er betastet ihn, nimmt dann die Lampe und leuchtet ihn von allen Seiten ab. Aha – antik ist er. Empire, nicht ganz rein allerdings im Stil. Und stark beschädigt ist er auch. Da schaun Sie her, bitte! Abgestoßen ein ganzes Eck. Wenn einer kauft, muß er gleich nehmen in der Hand ein schweres Stück Geld für Reparatur. Da fehlt das Schloß. Die Lade hier ist nicht aus der Zeit. Kennt man am Holz. Gott der Gerechte, hundert Jahre sind eine lange Zeit, da kann schon was gehen zugrund. Stellt die Lampe wieder auf den Mitteltisch. Was soll er kosten?

MUTTER unsicher. Hundert Kronen.

GOLDSOHN die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. Gotteswillen! Hundert Kronen! Sind Sie gesund, liebe Frau?

MUTTER erregt. Auf das Dreifache ist er geschätzt!

GOLDSOHN. Wissen Sie, was man heutzutag' kriegt für hundert Kronen? Eine ganze Garnitur, neu aus der Fabrik, abgenutzt nicht zu reden.

MUTTER. Die ist aber auch danach.

GOLDSOHN. Wie heißt? Ein armer Teufel, wenn er kriegt um dasselbe Geld: Bett, Tisch mit Sessel, einen Kasten und vielleicht noch einen Wandspiegel dazu, ist ihm doch lieber als ein einzelnes Stück! Unsereins verkauft doch nur an arme Leut'. Froh muß ich sein, wenn ich krieg' für einen Hut, gekauft um 40 Kreuzer, wenn ich krieg', sagen wir hoch, eine Krone. Einen Gulden rein, bis ich mir hab' verdient, muß ich mir ablaufen die Fuß' in viele Häuser. Und von Ihnen soll ich kaufen um hundert Kronen? Kann ich das, sagen Sie selbst?

MUTTER. Sie müssen ja nicht. Es werden sich schon andere Käufer finden.

GOLDSOHN. Für das viele Geld? Keiner wird sich finden, mein Wort! Meschugge müßt' einer sein, kein Gewissen müßt' er haben, betrügen müßt' er sich selbst und den andern dazu, wenn er wiederverkauft. Soll ich Ihnen sagen, wieviel wert ist das Möbel?

MUTTER. Das weiß ich ohnehin.

GOLDSOHN immer erregter. Nix wissen Sie, liebe Frau! Liebhaberwert wissen Sie, aber nicht den Wert im Handel. Mit gesenkter Stimme. Und Sie wollen doch verkaufen, Sie wollen doch nicht warten, bis vielleicht wer kommt aus Zufall, ein Liebhaber, ein Sammler. Sie brauchen doch das Geld, so wie andere Leute brauchen ein Geld, plötzlich, aus Familienumständen oder sonst wegen diskrete Verhältnisse.

MUTTER abweisend. Ich brauche das Geld nicht.

GOLDSOHN mit wachsender Suada. Aber loswerden wollen Sie doch das Möbel! Holt man sonst den Juden? So machen Sie mir doch einen annehmbaren Preis, liebe Frau! Lang sollen Sie leben, viel Freud' sollen Sie haben an der schönen Fräulein Tochter, steinreich sollen Sie werden. Nur lassen Sie auch verdienen einen armen Juden ein paar Kreuzer! Daß ich nicht heut abend nach Haus komm' ohne Verdienst! Machen Sie mir einen Preis!

MUTTER zögernd. Sagen Sie mir, was Sie geben würden.

GOLDSOHN sofort sachlich. Gut. – Dank dir, lieber Gott, daß du die Frau hast erweicht! – Schuft meines Namens soll ich sein, wenn ich Sie überhalt'! Nix will ich verdienen bei dem Geschäft! Er nimmt aus seiner Brieftasche eine Zwanzigkronennote und legt sie auf den Tisch. Bar auf den Tisch ge legt – zwanzig Kronen!

MUTTER empört. Sie sind wohl nicht bei Trost!

GOLDSOHN suggestiv. Zwanzig Kronen! Nehmen Sie!

MUTTER grob. Nein!

GOLDSOHN. Sie machen ein gutes Geschäft, mein Wort.

MUTTER. Fahren Sie ab!

GOLDSOHN flehentlich. Liebe Frau, um Gottes Barmherzigkeit willen, machen Sie mich nicht unglücklich, liebe Frau! Nicht einen Heller verdien' ich bei dem Geschäft! Zwanzig Kronen! Nehmen Sie! Ich kann Ihnen nicht mehr geben, liebe Frau –

MUTTER. Nein hab' ich gesagt!

GOLDSOHN mit allem Aufgebot. Liebe, gute, schöne Frau! Bei Gott, schön sind Sie! Eine Christenfrau! Immer weinerlicher. Fünf Kinder hab' ich zu Haus, liebe Frau. Wollen Essen haben, Kleider und Schuh. So sperren sie den Mund auf jeden Tag, wenn ich komm' nach Haus. Soll ich ihnen nicht kaufen können heut abends ein Stück trockenes Brot?! Waisen sind sie. Genommen hat der Herr ihre Mutter im Wochenbett. Ein Witwer bin ich. Was hab' ich getan, Gott der Gerechte, daß du – –

 

Gottfried ist während der letzten Exklamation Goldsohns nach Hause gekommen. Im Augenblicke,

da dieser ihn gewahrt, unterbricht er sich mit einem Schlage und setzt plötzlich eine demütiglächelnde und zugleich forschende Miene Gottfried gegenüber auf. Dieser ist erst einige Augenblicke, die Situation überblickend, an der Tür stehengeblieben. Jetzt aber geht er einige Schritte nach vorne.

 

GOTTFRIED in seinem gemachten Tone. Guten Abend allerseits. Was geht hier vor? Mit wem habe ich die Ehre?

GOLDSOHN devot lächelnd. Küsse die Hände, Euer Gnaden, nur ein armer Pinkeljud' ist da. Gott der Gerechte, laß mich ein bissel was verdienen! Nuchem Goldsohn ist mein Name. Gerufen bin ich von der lieben Frau Mama. Möchte mir sonst nicht erlauben –

GOTTFRIED nach einem kurzen Blick auf die Mutter, die sich inzwischen wieder zum Tisch gesetzt hat und scheinbar unbeteiligt ihre Näherei fortsetzt. Ach so. – Um welchen Gegenstand handelt es sich?

GOLDSOHN. Nur um das alte Schreibpult, Euer Gnaden, in der Ecke dort. Euer Gnaden möchten einlegen für mich ein gutes Wort bei der Frau Mama. Sie ist so viel grausam und teuer.

GOTTFRIED der unmerklich zusammengezuckt war, mit sachlicher Ruhe. Und wieviel bieten Sie für das – alte Schreibpult?

GOLDSOHN wie oben. Euer Gnaden, wenn ich könnt', tausend Gulden möcht' ich Ihnen geben. Aber ich bin ein armer Familienvater, fünf hungrige Kinder hab' ich, lieber Herr, wollen alle Essen haben und Kleider und Schuh –

GOTTFRIED. In Würdigung all dieser Umstände – wieviel bieten Sie also?

GOLDSOHN mit gefalteten Händen. Zehn Gulden, Euer Gnaden –

GOTTFRIED in die Ferne. Zehn Gulden – ist gleich: zwanzig Kronen – sind etwas wenig, Herr Goldsohn, für die scheue Liebe einer Kindheit, für den treuen Gefährten von Großvater, Vater und Sohn. Sie wissen nicht, Herr Goldsohn, wie auf diesem scheinbar verbündeten Holze manchmal die Sonne ruhen konnte, daß es aufleuchtete wie Bernstein. Für solche Kostbarkeiten sind zwanzig Kronen wenig Geld, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN der ihm andächtig zugehört hat, leise. Eine edle Sprache haben Sie, Herr Doktor!

GOTTFRIED mit schmerzlichem Lächeln. Dafür gibt einem, aber, wie das Sprichwort sagt, der Jude nichts.

GOLDSOHN. Viel Geld, glauben Sie mir, laßt sich verdienen mit so einer Sprach'.

GOTTFRIED. Bis dato hab' ich es mit ihr nicht einmal zu »Lobenswert« im deutschen Aufsatz ge bracht.

GOLDSOHN. Ist das ein Maßstab? Sind nicht berühmte Leut' durchgefallen sogar in der Schul'? Euer Gnaden wundern sich, was unsereins alles weiß. Aber man tut, was man kann, für die Bildung. Lesen, wenn ich kann, am Feiertag oder sonst, wann ich hab' Zeit, ist mein größter Genuß.

GOTTFRIED. Ich glaub' es Ihnen, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN nach einer Pause. Herr Doktor, soll ich Ihnen machen einen Vorschlag?

GOTTFRIED. Nun?

GOLDSOHN. Mir, aufrichtig, ist der Kasten zu teuer. Aber wenn Sie wollen, einen Schwager hab' ich, der hat ein großes Geschäft für Antiquitäten. Werden ihn ohnehin kennen, Gebrüder Blau heißt die Firma, über vierzig Jahr am Platz. Höchste Herrschaften kaufen bei ihm, lassen warten der Equipage vor dem Geschäft. Soll ich mit ihm reden?

GOTTFRIED. Tun Sie das, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN geheimnisvoll. Vielleicht, daß er Ihnen bietet das Doppelte, oder gar, daß er Ihnen zahlt, daß – die Sonne daraufgeschienen hat wie Bernstein.

GOTTFRIED in äußerer Unbewegtheit. Ich danke Ihnen, Herr Goldsohn, daß Sie mir auf meine, wie Sie sagen, edle Sprache hin Ihren Herrn Schwager senden wollen. Ansonsten hat mir noch niemand etwas zulieb getan für meine edle Sprache.

GOLDSOHN zerfließend. Herr Doktor, glauben Sie, unsereins hat kein Herz? Ich seh' doch, mit wem ich hab' zu tun. Sie sind – ein Mensch!

GOTTFRIED. Wenn ich es bin, so ist es ein Sport, der über meine Verhältnisse geht, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN nachdem er mehrmals den Kopf geschüttelt hat. Sonst möchten Sie nicht so menschlich reden – mit einem armen Juden!

GOTTFRIED. Leben Sie wohl, Herr Goldsohn.

 

Goldsohn nimmt seinen Pinkel auf und geht mit stummen Verbeugungen ab. Marie ist, um ihn hinauszugeleiten, vorausgegangen.

 

GOTTFRIED nach einer Pause, leise. Ist es so weit, Mutter?

MUTTER die Arbeit weglegend, ohne ihn anzusehen. Alles Ersparte aufgebraucht, die Einkünfte im voraus verausgabt, alles halbwegs Wertvolle versetzt, nun geht es an die Möbel.

GOTTFRIED mit geschlossenen Augen, leise.

Nicht an die Güter hänge dein Herz,

Die das Leben vergänglich zieren ...

MUTTER mit beginnender Aggressivität. Ja, immer nur von andern Opfer verlangen ist leicht. Jetzt siehst du wenigstens, wie schwer es fällt, selber eines zu bringen.

GOTTFRIED mit gemachter Kühle. Nicht das ich wüßte. Es gibt Schwereres auf der Welt als Abschied zu nehmen von einem alten – Schreibpult. Es könnte nur sein, daß ein anderer einst die leere Stelle an der Wand mit Träumen bevölkert. Bis dahin ist allerdings noch Zeit, ihn schonend vorzubereiten. So bald wird er ja die Kasematte nicht verlassen, wo seine armen Lungen, nach offenen Fenstern hungernd, die Latrinengerüche eines Lichthofes einatmen.

MUTTER in ohnmächtigem Zorn. Ich lasse mir das nicht jeden Tag vorwerfen! Heute rede ich mit Doktor Radinovich!

GOTTFRIED gehalten. Der alte Feldscher, unter den mein Vater geraten ist, wird wohl nicht des Rates wissen.

MUTTER empört. Das ist dein Dank für einen Mann, der aus Freundschaft für meinen seligen Vater, ohne auch nur einen Kreuzer zu nehmen –

GOTTFRIED ruhig. Pardon, liebe Mutter, Feldscher ist keine entehrende Bezeichnung. Auch Friedrich Schiller hat sich diesen Titel gefallen lassen müssen. Andrerseits wird man gewiß zugeben müssen, daß ein Militärchirurgus von Anno 66 im Anfange dieses Jahrhunderts ein schlechter Internist sein kann, wenn seine Ordination auch kostenlos verläuft.

MUTTER immer machtloser. Du hättest wohl zu deinem Vater lieber den Armenarzt geholt!

GOTTFRIED. Sogar lieber das! Meines Vaters Leiden ist ja die Krankheit der Armen.

MUTTER. Und ich bringe ihn wohl um, indem ich den Armenarzt nicht holen lasse?

GOTTFRIED eisig. Ich möchte denselben Gedanken ein wenig anders formulieren.

MUTTER nach einem kurzen, rauhen Aufweinen, das sie sofort bezwingt. So redet mein eigenes Kind! Sie preßt die Stirn gegen die Hände. Von rechts das Klavierspiel des Zimmerherrn: Trauermarsch von Chopin.

GOTTFRIED nachdem er mehrmals auf- und abgegangen, hinter der Mutter stehenbleibend, im Tone des Gutmachens, aber unfähig dazu. Rege dich nicht auf, Mutter! Hörst du nicht, wie taktvoll unser Aftermieter mit Rücksicht auf die gegebenen Umstände den Trauermarsch von Chopin spielt? Es könnte allerdings sein, daß er, im Katzenjammer nach durchtobten Nächten, eigentlich das Lied von Isaak und der Sarah meint, die bekanntlich zusammen in die Sahara zogen.

 

Doktor Radinovich tritt ein, gefolgt von Marie, die ihm mit einer Kerze durch das dunkle Vorzimmer geleuchtet hat.

Er ist ehemaliger Militärarzt und uralt. Er hat

schneeweißen Kaiserbart. Das noch reiche, weiße Haar ist militärisch schlicht gescheitelt. Er trägt über einem doppelreihigen Salonrock von anno dazumal einen Winterüberzieher, der sein ehemaliger Uniformmantel sein dürfte, in der behandschuhten Hand den typischen zeitlosen Zylinder der pensionierten Offiziere. Im Knopfloch seines Gehrockes steckt ein roter Ordensknopf. Er ist von abgezirkelter Ritterlichkeit und spricht das echte Offiziersdeutsch – allerdings altmodisch-verklärt – mit slawischen Anklängen.

 

DOKTOR. Ihr ergebener Diener, liebe Freundin! Er küßt der Mutter die Hand. Welche Erregung in Ihren Mienen! Es täte mir leid, wenn das Befinden Ihres Herrn Gemahls dazu Anlaß gäbe.

MUTTER ihre Erregung niederkämpfend. Nein, nein! Ich werde Sie nachher um eine Unterredung bitten.

DOKTOR sehr ernst. Gerne, gnädige Frau. Er legt ab. Wenn es beliebt, suchen wir jetzt den Patienten auf. An der Tür. Nach Ihnen! Mit Mutter und Marie links ab.

 

Gottfried allein. Er sieht einige Augenblicke den Abgehenden nach, kommt dann nach vorne rechts. Das Folgende spricht er ins Publikum, aber leise zu sich selbst, vorerst noch unbewußt an den Sekretär

gelehnt. Von rechts nebenan das Klavierspiel hat aufgehört.

 

GOTTFRIED. Armes, gemartertes Weib, warum kann selbst dein ehrlicher Kummer keinen Notsteg bauen zwischen dir und mir? Wer hat diese Schanzen aufgeworfen zwischen Mutter und Sohn? Ein Stärkeres muß es als Armut sein, die freilich Mensch gegen Mensch und Blut gegen Blut verbittert. Immer wieder wälz' ich den schweren Stein auf den Gipfel des Abhangs. Immer wieder versuch' ich, dich zu verstehn, dich – lieb zu haben sogar. Die Schmerzen meines Ausgangs aus dir, deine schlaflosen Nächte um mich, deine Sorgen und Mühsal werf' ich als Riesengewicht in die Schale zu deinen Gunsten. Aber immer wieder erkenn' ich in deinem Wort und Gefühl, was ich, ererbt von dir, in meiner Brust nicht lieb habe, und wüte gegen dich, indem ich es aus mir merze. Weich. Manchmal freilich drängt es mich – Verzeihung von dir zu erbitten. Aber nahe daran, schnürt mir die Kehle zu ein höhnisch »Wofür?« – Dann neig' ich die fiebernde Wange, lieber als deiner Brust, leblosem Hausrat hin und streichle die kühlen Kanten, an denen der Vater schon die achtlose Kinderstirn sich wundgestoßen.

 

Doktor und Mutter treten leise auf. Beide sehr ernst.

Im Augenblick, da er sie bemerkt, entfernt sich Gottfried mit scheinbarer Unbefangenheit vom Sekretär und sieht die beiden erwartungsvoll an.

 

DOKTOR gedämpft. Darf ich Sie bitten, junger Freund, für einen Augenblick abzutreten?

 

Gottfried mit stummer Verbeugung links ab.

 

DOKTOR. Und Sie, liebe Freundin, schütten mir wohl Ihr Herz jetzt aus.

 

Mutter steht da und ringt mit ihrer Verschlossenheit, was sich im krampfhaften Spiel ihrer Hände ausdrückt. Endlich gefaßt, lädt sie den Doktor mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

 

DOKTOR nimmt mit einer Verbeugung Platz, vorsichtig. Ich weiß ja nicht, liebe Freundin, was Sie mir anvertrauen wollten. Man hat seinen jardin secret und möchte im Augenblicke einem alten Freunde Eintritt gewähren. Doch dann reut es wieder.

MUTTER mit innerlichem Zittern, dennoch bestimmt. Ich weiß, der Zustand meines Mannes ist hoffnungslos.

DOKTOR ausweichend. Die Hoffnung, liebe Freundin, ist ein zu kostbares Gut, um sie aufzugeben, ehe es nötig ist. Der Zustand Ihres Herrn Gemahls ist wohl besorgniserregend. Eine unmittelbare Ge fahr könnte jedoch erst dann eintreten, wenn er die Nahrungsaufnahme konstant verweigerte und das Fieber nicht nachließe.

MUTTER schüttelt mehrmals wie über etwas Unbegreifliches den Kopf, dann in sich hinein. Ich möchte nur wissen -

DOKTOR. Was denn, liebe Freundin? Denken Sie immer daran, daß Ihr Vater mein liebster Kamerad war in Freud und Leid!

MUTTER wie oben. Ich möchte nur wissen – Kaum mehr an sich haltend. ob ich wirklich daran schuld bin, daß es mit meinem Manne so weit gekommen ist. Ist denn alles, was ich für ihn – Sie wird von einem kurzen Aufschluchzen unterbrochen.

DOKTOR ritterlich um sie besorgt. Meine Liebste, Beste, wer würde eine so furchtbare Anklage zu erheben wagen?

MUTTER wieder verschlossen, abwehrend. Niemand – niemand!

DOKTOR. Ich stelle Ihnen jederzeit und für jedermann das Zeugnis aus, daß Sie alles getan haben, was in Ihren Kräften stand, alles.

MUTTER in sich hinein. Woher hätte ich das Geld nehmen sollen, um meinen Mann von hier wegzubringen? Woher denn? Fremde Leute anbetteln?

DOKTOR nach kurzer, innerlich erregter Pause, mit der Starrheit des Uralten. Ich entsinne mich nicht, einen Wechsel des Aufenthaltes verordnet zu haben. – Den Schwerkranken den Zufällen einer Reise auszusetzen, quelle idée de diable! Wo man doch weiß, daß sogar das Tier, la bête brute, durch den Wechsel seiner gewohnten Lebensbedingungen Schaden leidet. Das sind die Extravagancen der sogenannten modernen Medizin. Man hat meinetwegen unendlich viel im détail dazugelernt, hat aber leider in seinem Übermut darauf vergessen, daß wir Ärzte nur die Schrittmacher sind für die große souveraine Heilkraft der Natur. Wer wie ich auf Schlachtfeldern immer wieder diesem Wunder begegnet ist, denkt bescheidener von der menschlichen Kunst zu kurieren. Man hat ja gewiß seine Pflicht getan, auch in Fällen, wo man selbst an Rettung nicht mehr glaubte. Und man hat in gar manchem dieser Fälle erlebt, daß der Mann gesund wurde. Allerdings hat man dann nicht auf seine Kunst gepocht, nein, man hat es demütig jener Wunderkraft zugeschrieben, die man in früheren Zeiten wohl auch – Gottes Hilfe genannt hat ...

MUTTER zitternd. Glauben Sie an diese – Hilfe Gottes auch bei meinem Mann?

DOKTOR ruhig. Man glaubt im allgemeinen an sie.

MUTTER wie oben. Auch bei meinem Mann?

DOKTOR unruhig. Warum wollen Sie das in dieser Stunde wissen?

MUTTER dumpf losbrechend. Ich kann diese Krankheit – nicht mehr bestreiten!

DOKTOR nach einem langen Blick. Ich verstehe.

MUTTER aufgetan. Sagen Sie nicht selbst, daß ich alles getan habe, was in meinen Kräften war? Kein Opfer gescheut, alles Ersparte zugesetzt. Mehr als das: Schulden gemacht. Was wissen meine Kinder! Sie denken von heute auf morgen. Sie würden die ersten sein, die mich anklagen, wenn der Sohn die Studien nicht vollenden könnte, wenn die Tochter wie eine Bettlerin in die Ehe treten müßte. Wenn es also nur ein Aufschub ist des Unvermeidlichen, dann – ich nehme es auf mich! – dann ...

DOKTOR mit einem Anflug von Bewunderung. Sie sind wahrhaftig die Tochter eines Soldaten! Sie haben von ihm, der mein liebster Freund war, den Mut geerbt, den Unerbittlichkeiten des Lebens klar ins Auge zu sehen und Opfer zu bringen um der höheren Sache willen. So war er selbst. Solch einer Frau braucht man nicht zu verschweigen, was man nach menschlichem Ermessen für die Wahrheit hält.

MUTTER plötzlich mit dem Unterton der Angst. Es wäre also wirklich – nur ein Aufschub?

DOKTOR nach banger Pause, mit der Festigkeit eines alten Soldaten. Ja.

MUTTER wieder beherrscht. Und was wird – jetzt sein?

DOKTOR. Von nun an erübrigt nur mehr die Menschenpflicht, den Ärmsten nicht fühlen zu lassen, daß er verloren ist. So bereitet man den Übergang zu jener letzten Phase vor, wo die gütige Natur selbst den Schleier des Genesungswahnes über das nahe Ende breitet. Euphorie nennt es die Wissenschaft. Der Patient wird nicht mehr mit Medizinen gequält, er erhält, soweit es ihm zuträglich ist, die Kost der Gesunden, und man gewährt ihm alle Wünsche, die im Bereiche der Mittel sind.

MUTTER starr verschlossen. Würden Sie das – auch meinen Kindern sagen?

DOKTOR. Warum nicht? Das heißt – mit der wahren Begründung?

MUTTER starr. Mit einer – anderen.

DOKTOR. Ich denke auch. Sie haben noch Zeit, die volle Wahrheit zu erfahren. Rufen Sie sie, bitte!

MUTTER entschlossen zur Tür links. Gottfried – Marie!

 

Gottfried und Marie treten ein und sehen den Arzt und die Mutter erwartungsvoll an.

 

DOKTOR mit ärztlicher Verstellung. Also, meine jungen Freunde, ich habe heute Ihren lieben Herrn Vater in einer Verfassung vorgefunden, die eine ärztliche Behandlung durch meine Person nicht mehr nötig macht.

MARIE leichtgläubig, freudig. Mutter, ist das wahr?

 

Gottfried ist zusammengezuckt und durchdringt den Arzt mit seinen Blicken.

 

DOKTOR indem er seine Überkleider anlegt. Es ist so, wie ich gesagt habe. Ich werde daher meine Visiten bis auf weiteres einstellen, und meine liebe Freundin, Ihre Frau Mutter, weiß alles, was nunmehr bezüglich der Pflege und Ernährung einzutreten hat. Sie hat von mir uneingeschränkte Vollmacht. Also leben Sie wohl, meine Lieben, melden Sie Ihrem Herrn Vater noch meinen gehorsamsten Diener! Adieu.

MUTTER mit dem Doktor schon bei der Tür, sich halb zurückwendend, gleichfalls verstellt. Jetzt kann Gottfried auch seinen Sekretär behalten – als Notpfennig für schwerere Zeiten. Mit dem Doktor ab.

MARIE inbrünstig aufjubelnd. Gottfried! Wirft sich an seine Brust.

GOTTFRIED schüttelt sie ab und packt sie mit wildem Griff am Arm. Bist du wahnsinnig?! Er stellt die Visiten ein! Ich kann meinen Sekretär behalten! Begreifst du noch nicht? Losbrechend. In ein verlorenes Unternehmen wird kein Kapital mehr investiert! Kein Kapital mehr – kein Kapital!

MARIE läßt die Arme sinken, ihre Lippen bewegen sich tonlos, endlich entringt es sich ihr fast unhörbar. Er – muß – gerettet werden.

 

Der Vorhang fällt.

 

 

 

Actus tertius

Comoedia interposita

 

Die Bude des Zimmerherrn.

Ein geräumiges Zimmer, das man durch eine einflügelige, braungestrichene Tür in der Mitte der Hintergrundwand betritt. In der Rechtswand ein niederes, aber breites Doppelfenster mit weißen Seitenvorhängen. Links vorne an der Wand ein kurzer, mit falschem Perserteppich überbreiteter Diwan. Davor ein kleiner runder Tisch mit einigen Sesseln. Jenseits davon in der Linkswand eine Tür in das Wohnzimmer der Familie Spuller. Ein braun poliertes Pianino ist vor diese gerückt. Im übrigen eine kleine Bücheretagere, ferner an den Wänden: Öldrucke, gekreuzte Schläger, Stierköpfe und andere Fechtrequisiten.

Es ist Abend. Auf dem Pianino brennt eine bronzene Stehlampe mit rotem Papierschirm. Im Anfange des Aktes liegt bereits ein wenig Mondschein auf der Diele beim Fenster rechts. Die beleuchtete Bodenfläche wächst während des Aktes und gegen Ende zeichnet sich das Fensterkreuz scharf auf dem Fußboden ab.

Der Zimmerherr stud. med. Bonifaz Strantz und sein Kollege Stanck am Tische links. Sie haben

Weinflaschen und Gläser vor sich.

Strantz ist ein mittelgroßer, schlanker Mensch von ungefähr zwanzig Jahren, Sohn aus vermögendem Bürgershause, nach englischer Mode sorgfältig gekleidet. Sein Gesicht feingeschnitten und nervös.

Stanck, ein robuster Kerl, sehr salopp in Anzug und Haltung, ein älteres Semester mit ziemlich gedunsenem und mehrfach zerschmissenem Gesicht. Beide in Tabakqualm eingehüllt und in einigermaßen benebelter Stimmung.

Schon ehe der Vorhang aufgeht, vernimmt man unbändiges und unflätiges Gelächter, das bei Strantz jedoch ein wenig krampfhaft und forciert klingt.

 

STANCK. Hast du noch solche auf Lager? Kommt vor Lachen ins Husten.

STRANTZ haut ihn auf den Rücken. Sauf, altes Schwein, sonst würgt es dir noch den Mastdarm beim Rachen heraus!

STANCK sich allmählich erholend. Hol' mich der Teufel! Rülpst. Prosit!

STRANTZ gröhlt. Frau Wirtin hatte einen Knecht –

STANCK in überbrüllend. Silentium! Kennst du das? Singt. Frau Wirtin hatte einen Schurz –

STRANTZ. Schurz! Das kann gut werden! Platzt heraus.

STANCK singt mit Bierstimme.

Frau Wirtin hatte einen Schurz,

Der war ihr hinten viel zu kurz.

Da kam ein Schindersmann herbei,

Der war dem Schurz nicht böse

Und ...

STRANTZ mit einem plötzlichen Blick nach der Tür. Pst! Schrei nicht so! Mir war, als ob ...

STANCK mit blödem Gesichtsausdruck. Was erschreckst du einen denn so? Die Poengte ist mir förmlich in der Kehle stecken geblieben. Cantus interruptus – um mich per analogiam auszudrücken!

STRANTZ gedämpft. Es war sicher jemand an der Tür.

STANCK. Na und?

STRANTZ noch immer gespannt. Kusch!

STANCK. Gib's auf, altes Haus! Sie kommt ja doch nicht, von der du erwartest, daß sie eines Tages als Susanna im Bade verkleidet hereintänzelt und dich zwischen ihre weißen Schenkel nimmt. Kauf dir ein Mensch, Kamerad, und laß jene ranzig werden! Oder hast du sie schon gehabt? Gestehet mir, Graf Örindur –

STRANTZ. Gehabt oder nicht gehabt, darauf kommt es nicht an.

STANCK. Wie das? feixte der Embryo.

STRANTZ verbissen. Klein will ich sie vorher erst einmal sehen! Herangekrochen muß sie kommen, mir aus der Hand fressen –

STANCK frotzelnd. Sie, die es gewagt hat, Herrn stud. med. Bonifaz Strantz eine Maulschelle zu verabreichen, als sich seine Hand dorthin verirrte, wo zwischen weißen Hügeln, wie die Dichter sagen –

STRANTZ ohne darauf zu achten, aber noch verbissener. Und erst dann, erst lang darnach, wenn sie mir aus der Hand gefressen hat, werde ich vielleicht in puncto veneris mit mir reden lassen.

STANCK ironisch. Sie wird dich nicht lang bitten müssen.

STRANTZ eingebildet. Vielleicht doch! Hübsch ist sie ja eigentlich nicht.

STANCK ihn hänselnd. »Sie sind mir zu sauer, ich mag sie nicht«, sagte der Fuchs und schlich seines Weges.

STRANTZ wegwerfend. Trottel!

STANCK wie oben. Hasenfuß!

STRANTZ. Fang du etwas an, wenn ihr der Vater, die Mutter, der Bruder den lieben Tag lang auf dem Hals sitzen! Seitdem der Alte auf seinem künftigen Sterbebett liegt, ist sie überhaupt nicht mehr zu sprechen.

STANCK sachlich. Wird er aufkommen;

STRANTZ. Nee, bewahre.

STANCK. Na also, ein Argus weniger. Prosit!

STRANTZ. Prosit! Sie trinken.

STANCK nach einer kleinen Pause, sachlich. Bist du eigentlich verliebt in sie?

STRANTZ wegwerfend. Ich verliebt? Man müßte doch der Eunuch des Sultans von Marokko sein, wenn man mit solch einem Geflügel Tür an Tür lebt, wohnt, schläft, und nicht darnach schnappen wollte.

STANCK. Du hast zu viel und zu wenig Phantasie, mein Junge. Wer weiß, wie sie aussieht als Ding an sich, besser gesagt, als Ding, das nichts an sich hat? Lacht.

STRANTZ überlegen. Laß das gut sein.

STANCK. Hast du es eigentlich schon mit Geld und guten Worten probiert?

STRANTZ trübsinnig. Alles umsonst. Stolz hat sie. Das muß man ihr lassen.

STANCK. So mach sie verliebt in dich!

STRANTZ. Nein, danke. Ich bin nicht für verliebte Verhältnisse.

STANCK. Allerdings. Die man rief, die Geister, wird man dann nicht los. Lauernd. Immerhin, wenn man selbst kühl bis ans Herz hinan bliebe – Könntest du das?

STRANTZ wegwerfend. Ob ich das könnte!

STANCK. Na du, so einfach ist das nicht. Liebe steckt an. Unsereins hat doch auch nicht Kamillen tee in der Herzklappe. Auf Ja und Nein schwimmst du im Zuckerwasser und träumst, lügst dir und ihr vor, daß es ewig währen müsse.

STRANTZ. Ich nicht.

STANCK. Gerade du. Du bist nämlich schon verliebt in sie.

STRANTZ betroffen. Red keinen Unsinn!

STANCK. Der Beweise, daß du bereits in sie verliebt bist, sind nämlich zwei. Erstens: warum ziehst du nicht einfach aus, wenn dir an ihr nichts liegt?

STRANTZ verlegen. Bist du verrückt? Ich kriege doch so ein passendes Quartier nicht wieder.

STANCK. Larifari! Tausend, wenn du willst.

STRANTZ. Und diese Aussicht! Bemühe dich doch zum Fenster: Gärten und immer wieder Gärten! Ganz ferne die alten Dächer und jenseits die Berge in weitem Zug! Sowas ist selten in der Großstadt.

STANCK ironisch. Also gut. Die Aussicht ist unbestreitbar schön. Ich kann mir vorstellen, daß man sie ungern missen würde. Ich setze dieses Argument vorläufig beiseite. Es gibt aber noch ein anderes, viel triftigeres – für deine Verliebtheit.

STRANTZ unbehaglich. Das wäre?

STANCK. Ein argumentum ad hominem sozusagen, gipfelnd in der zugegebenen Tatsache, daß du sie noch nicht besessen hast. Pardon, hör mich an! Wärest du nämlich wirklich so kalt, wie du vor gibst, du hättest schon längst die Methode gefunden, um dieses Schmalwild zur Strecke zu bringen. Denn im Grund genommen ist doch eine jede mit denselben paar leichtfertigen und banalen Tricks zu kapern. Man muß sie nur anwenden.

STRANTZ kleinlaut. Ich hab' es doch versucht.

STANCK. Ja, aber nicht mit jenem aalglatten Zynismus, der vor allem nottut. Darum ist es auch vorbeigeglückt. Laß mich einmal in deiner Situation sein!

STRANTZ ärgerlich. Ach was, ich bin in gar keiner Situation.

STANCK. Nicht? Auch recht. Du, soll ich einmal statt deiner hier übernachten? Ich wette mit dir –

STRANTZ mit rotem Kopf. Halt's Maul!

STANCK ironisch. Oho, du bist ja verliebter, als ich gedacht habe!

STRANTZ wegwerfend. Red meinetwegen, was du willst.

STANCK jedes seiner Worte auskostend. Ich wette also mit dir, daß sie am andern Morgen am Grabe ihrer Jungfernschaft stünde, blutige Tränen weinend.

STRANTZ mit gemachtem Gelächter. »Blutige Tränen weinend« ist gut.

STANCK animiert. Ist sie überhaupt noch virgo fidelis?

STRANTZ. Wüßt' ich das, sie wär's nimmer.

STANCK. Nur keine Renommagen, Herr Kamerad! Die Erkenntnis, daß eine Tür verschlossen ist, hat noch niemals den Schlüssel ersetzt!

STRANTZ mit Galgenhumor. Ein guter Dietrich sperrt alle Schlösser.

STANCK trällernd. Wenn man ihn nur haben tut.

STRANTZ. Verlaß dich drauf! Sie lachen beide unbändig.

STANCK. Siehst du, so lieb' ich den Spanier! Kopf hoch, die Nüstern gebläht und hingestoben auf den Fährten, die uns das Leben gewährt! Die ganze Welt ist, wenn man will, ein Freudenhaus. Eine andere Mutter hat auch ein schönes Kind, und schwarz sind alle Kühe bei Nacht.

STRANTZ mitgerissen. Und alle Katzen grau! Recht hast du!

STANCK. Du sollst nicht geizen mit dem Balsam deiner Lenden! So lautet das elfte bis hundertsiebente Gebot.

STRANTZ. Ist es die eine nicht, so sind es zehntausend andere!

STANCK. Jetzt ist die Zeit der Barkarole, sagt Offenbach. Die Stunde der Geschäftssperre, sage ich. Jetzt sind die Straßen übervoll von blühendem Fleische, und »alle wollen sie erfahren der Verführung süße Sündigkeit«, sagt ein vaterländischer Dichter! Komm mit, blonder Doktor!

STRANTZ. In des Teufels Namen, ich verlasse diese schwüle Mondscheinkammer und gehe mit dir!

STANCK. Das ist ein Wort, bravo! Und tu mir Geld in den Beutel, auf daß es für ein Nachtmahl reiche und drei Flaschen Rüdesheimer! Dafür kannst du dir heute noch die Genüsse eines Paschas einhandeln! Und wenn alle Stricke reißen –

STRANTZ einen Augenblick ernüchtert, aber gleich wieder forciert. Was dann?

STANCK. So gibt es noch immer die kleine Irma, Rheinweinstube, Box Nr. 9 rechts.

STRANTZ. Die Pseudo-Ungarin, die eigentlich Mali heißt –?!

STANCK. Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelslicht! Aber wesentlich und wirklich sind die Spuren ihrer Raubtierzähnchen, die sie mir in besseren Zeiten in meinen Bizeps eingraviert hat.

STRANTZ mit Gelächter. Dir auch?

STANCK ihn umarmend. Bruder in meretrice! Du zahlst alles!

STRANTZ. Ich zahle alles!

STANCK. Auf nach Bethulia!

STRANTZ packt Stanck plötzlich am Handgelenk. Horch!

STANCK ihn mit der anderen Hand festhaltend. Herstellt! – Hirngespinste!

STRANTZ. Horch! – Auslassen!

STANCK. Keine Rückfälle, wenn ich bitten darf!

 

Strantz reißt sich los.

 

STANCK verächtlich. Waschlappen!

 

Strantz mit großen Schritten, auf den Zehen zur Tür hin, die er rasch öffnet.

Marie wird in der Türöffnung sichtbar, sie steht verlegen und betreten da. Strantz sieht sie einige Augenblicke überrascht und fragend an. Auch er scheint verlegen. Stanck ist zu sich gekommen und betrachtet die Situation mit zynischer Neugier.

 

MARIE. Verzeihen Sie, ich glaubte Sie allein.

STRANTZ. Wenn Sie es wünschen –

MARIE. O nein, verzeihen Sie die Störung.

STRANTZ leise zu Stanck. Mach dich aus dem Staub!

STANCK verständnisvoll, prononciert. Ich bin kein Spaßverderber, ich gehe schon.

MARIE erregt. Um Spaß handelt es sich nicht.

STANCK seine Sachen zusammensuchend, trällernd, leise.

Ein gülden Geschmeide,

Ein Tüchlein aus Seide

Kam nie keiner Maide

Zu Unpaß und Leide.

STRANTZ ungeduldig. Ich komme nach.

STANCK absichtsvoll. Also Punkt neun, Rheinweinstube, in der Box von der kleinen Irma.

STRANTZ. Schon gut.

STANCK. Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Leise. Und kalt bis in die Sohlen, rat' ich dir! Laut. Meine Ergebenheit, Fräulein. Ab.

STRANTZ formell. Nehmen Sie Platz! Womit kann ich dienen?

MARIE mühsam. Ich bin nicht schuld daran, daß Sie sich neulich in der Tonart geirrt haben. Ich habe Ihnen wirklich keinen Anlaß gegeben.

STRANTZ mit gespielter Ruhe. Diese Sache ist ja abgetan.

MARIE weiblich-gekränkt. Bei der kleinen Irma ist jenes Benehmen vielleicht am Platz.

STRANTZ höhnisch. Eine Eifersuchtsszene? Darauf war ich am wenigsten gefaßt.

MARIE ironisch, rauh. Eifersucht?

STRANTZ. Scheinbar.

MARIE mit Überwindung. Wenn ich heute trotz alledem zu Ihnen komme –

STRANTZ. So haben Sie sicher einen triftigen Grund dafür, und der wäre?

MARIE erschüttert. Der Arzt hat meinen Vater – aufgegeben.

STRANTZ konventionell. O, das bedaure ich sehr.

MARIE. In dieser Wohnung ohne Licht und Luft kann er nicht mehr gesund werden.

STRANTZ wie oben. Ein Aufenthalt im Süden oder in staubfreier Bergluft wäre freilich besser –

MARIE leise. Wir sind arm.

STRANTZ. Einen kleinen Notpfennig für die äußersten Fälle hat wohl jede Familie aufgespart.

MARIE. Die lange Krankheit hat alles aufgezehrt.

STRANTZ. Das wäre freilich schlimm. Peinliche Pause.

MARIE schamvoll. Muß ich es denn aussprechen?

STRANTZ mit gedämpfter Brutalität. Sie wollen Geld von mir –

MARIE. Geld – Geld? Ich will keine Almosen.

STRANTZ geschäftlich. Ein Darlehen also.

MARIE wieder zaghaft. Einen Vorschuß.

STRANTZ. Worauf?

MARIE. Auf den Zins –

STRANTZ. Kommen Sie im Auftrag Ihrer Frau Mutter?

MARIE. Meine Mutter weiß nichts davon.

STRANTZ mit leisem Lächeln. Das ändert die Sachlage.

MARIE mit unterdrückter Ängstlichkeit. Sie gedenken doch nicht, das Quartier zu wechseln?

STRANTZ sich weidend. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das gedenke.

MARIE ihn durchschauend, mit unterdrückter Empörung und gespielter Demut. Sind Sie nicht zufrieden mit der Wohnung?

STRANTZ. Es gibt Umstände, welche die schönste Wohnung zu verleiden vermögen. Man ist schließlich auch nur ein Mensch, nicht wahr?

MARIE mit vorsichtiger Schärfe. Sie können die kleine Niederlage nicht vergessen, die Ihre Eitelkeit erlitten hat.

STRANTZ. Eitelkeit?

MARIE. Es ist nichts anderes!

STRANTZ vielsagend. Wer weiß!

MARIE immer unbeherrschter. Wer ein Mädchen liebhat – seine Werbungen stell' ich mir anders vor.

STRANTZ mit eisiger Freundlichkeit. Darum haben Sie mir ja auch den Schlag ins Gesicht versetzt, nicht wahr?

MARIE rechtsbewußt. Ich konnte mich Ihrer nicht anders erwehren.

STRANTZ wie oben. Also haben wir beide in unwiderstehlichem Zwang gehandelt. Denken wir nicht mehr daran.

MARIE dumpf. Soll ich Sie um Verzeihung bitten?

STRANTZ mühsam in seiner Rolle verharrend. Darauf wird gerne verzichtet.

MARIE mit beherrschtem Flehen, leise. Mein Vater ist sterbenskrank.

STRANTZ. Ich habe es bereits aufrichtig bedauert.

MARIE mühsam. Sie gehen auf meine Bitte nicht ein. – Mir fehlen ein paar – mir fehlt eine Summe, die Sie unbedenklich – in einer einzigen Nacht vielleicht –

STRANTZ ironisch. Sie machen sich übertriebene Vorstellungen von meinen Einkünften und meiner Verschwendung.

MARIE sich erhebend, abschließend. Ich weiß, woran ich bin.

STRANTZ plötzlich unsicher. Bleiben Sie noch!

MARIE kalt. Wozu?

STRANTZ gedämpft. Ich liebe Sie – Sie wissen es.

MARIE herb. Es ist nicht wahr.

STRANTZ. Ich schwöre es.

MARIE überlegen. Es reizt Sie bloß, daß Sie ein Mädchen nicht bekommen können, das mit Ihnen in einer Wohnung lebt.

STRANTZ. Sie haben gehorcht.

MARIE. Nein, Sie haben so laut gesprochen, daß man es draußen hören mußte!

STRANTZ ohne zu begreifen. Und trotzdem sind Sie gekommen?

MARIE. Warum nicht? Ich will ja nichts von Ihrer angeblichen Liebe. Nur von Ihrer Menschlichkeit –

STRANTZ tief. Es war das zynische Gefasel mit einem Halbtrunkenen – Galgenhumor! Ihre Kälte hat mich so weit gebracht. Verzeihen Sie mir, Marie!

MARIE weich, leise, in die Ferne. Ich könnte einem Manne alles geben, wenn ich – ihn liebhabe. – Es müßte nicht geheiratet sein.

STRANTZ aufgewühlt. Und mich können Sie nicht – liebhaben?

MARIE gramvoll. Ich war Ihnen gut – im Anfang.

STRANTZ. Ich glaubte es zu merken. Und dann?

 

Marie schweigt.

 

STRANTZ drängend. Reden Sie, es ist vielleicht noch nicht alles verloren! Vieles läßt sich gutmachen!

MARIE ablehnend. Deswegen bin ich nicht gekommen.

STRANTZ immer dringender. O doch, doch! Auch deswegen sind Sie gekommen. Sie wissen es nur nicht. Sie fühlen bloß, wie unrecht Sie mir getan haben. Was habe ich denn schließlich verbrochen? Ist es so verwerflich, nach Ihnen zu trachten? Sie sind ja so stolz, so schön! Ich habe nicht anders können!

MARIE schwer atmend, bitter. Sie haben sich zu trösten gewußt.

STRANTZ mit Steigerung. Sie kennen den Brand nicht, der in den Adern tobt. Die fliegenden Schauer nicht, die den Leib erschüttern. Die Träume nicht, die immer wieder dieselben Kreise jagen. Sie wissen nicht, daß man lieben kann mit einer Andacht ohnegleichen und doch seine Liebe durch die Gosse schleifen kann, durch den Abhub der Lust, wenn die reinen Tore verschlossen bleiben. Sie sind kalt!

MARIE benommen. Ich bin nicht kalt.

STRANTZ. Für mich aus Eis.

MARIE bitter, schneidend. Wie für alles, was nicht echt ist.

STRANTZ aufgebracht. Und Sie, Sie kommen und spielen mir eine Komödie vor, um – um –

MARIE außer sich. Ich habe Ihnen nichts vorgemacht! Oder ja? Es wäre mir nicht schwergefallen, Ihnen die Verliebte vorzuspielen! Ihre Eitelkeit hätte sich mit der bloßen Komödie begnügt! So aber bin ich gekommen wie ein Mensch zum andern Menschen und habe gesagt: das Leben meines Vaters – retten Sie es!

STRANTZ. Das steht nicht in meiner Macht.

MARIE steinern. Unter welchen Bedingungen stünde es in Ihrer Macht?

STRANTZ dumpf. Unter einer einzigen.

MARIE wie oben. Die wäre?

STRANTZ mit bemeistertem Gefühl. Daß Sie mich – liebhaben.

MARIE. Das kann ich nicht. Sprechen Sie – deutlicher!

STRANTZ entschlossen. Daß Sie mir gehören.

MARIE hart. Gut.

STRANTZ heiß. Ich bin ja von Sinnen nach dir! Will sie berühren.

MARIE zusammenfahrend. Lassen Sie das! Mühsam. Wir sprechen von Geschäften.

STRANTZ mit forcierter Brutalität. Auch recht! – Die Tür meines Zimmers ist jede Nacht offen.

MARIE mit äußerster Beherrschung. Wann bekomme ich das – Geld?

STRANTZ. Sobald Sie bei mir waren.

MARIE in plötzlicher Mädchenangst. Sie müssen es mir gleich geben – müssen es mir gleich geben! Morgen kann es zu spät sein. Sie können nicht verlangen, daß ich – schon heute Nacht – Sie bricht in krampfhaftes Weinen aus.

STRANTZ nimmt die Willenlose in seine Arme und läßt sie auf den Sessel gleiten. Marie, um Gottes willen, Marie! Er kniet vor ihr.

MARIE von Schluchzen gemartert. Ich bin nicht schlecht – Es ist ja nur – Mein Vater ist sterbenskrank –

STRANTZ zerknirscht. Sei still, still! Ich knie ja vor dir. Ich bitte dich um Verzeihung – Er küßt ihre Hände, die sie ineinandergerungen in ihren Schoß hat sinken lassen.

MARIE angstvoll. Was tun Sie denn! Ich liebe Sie ja nicht. Nur für meinen Vater –

STRANTZ leise. Noch heute, heute sollst du bekommen, womit du ihn rettest!

MARIE aufleuchtend. Noch heute?

STRANTZ. Ich habe Freunde, ich schaff' es für dich, noch heute, ganz gewiß!

MARIE. Und muß es mir holen kommen – heut nacht?

STRANTZ. Nicht heute, nicht morgen, niemals, wenn du mich nicht liebhast.

MARIE wie ein Kind. Ich hab' dich – nicht lieb.

 

Strantz sieht wehmütig zu ihr auf.

Marie neigt sich wie eine Träumende zu ihm hinab und küßt ihn auf die Stirne. Dann läßt sie ihn los und eilt mit versagenden Knien bis zur Tür.

Strantz, von ihrem Kusse verwirrt, erhebt sich, will ihr nach, kann vor Erregung nicht von der Stelle.

 

MARIE schon an der Tür, die Hände sanft abwehrend gegen ihn ausstreckend, mit traumhaftem Lächeln, leise. Nicht lieb! Ab.

 

Strantz tut eine Gebärde, als wollte er auf sie zu und sie zurückhalten. Dann läßt er die Arme sinken.

Das Zimmer ist voller Mondlicht.

Der Vorhang fällt.

 

 

 

Actus mysticus

Dieselbe Szene wie in den beiden ersten Akten.

Das Bett des alten Spuller steht jedoch an der Stelle des Mitteltisches unter der brennenden Hängelampe, die mit Papier nach unten hin und seitlich verhängt ist. Zu Häupten des Bettes ein Stuhl, auf dem einige Medizinflaschen und ein Topf mit dampfendem Wasser stehen. Der ganze Raum ist von dem Dufte des Latschenöls erfüllt.

Im Bette liegt der alte Spuller, abgezehrt, bleich, und schläft.

Gottfried beim Sekretär, auf dem die angezündete, aber mit einem grünen Schirm abgedämpfte Studierlampe steht.

 

GOTTFRIED zuerst in ein Buch starrend, dann den Blick davon wendend und immer mehr ins Publikum, dennoch aber für sich sprechend. ... Zwei Züge fahren von A nach B. Die Geschwindigkeit des einen ist S, die des andern S mit dem Index 1. Liest die Aufgabe zu Ende. Eine Gleichung, eine eingekleidete Gleichung – mit wievielen Unbekannten? ... Wie weit ist es von A nach B? Das ist die Frage, das große X! – Löst du sie nicht – ja dann ... »Sie an der Ecke der fünften Bank, zeigen Sie mir Ihre Präparation!« ... Mein Gott, du weißt, daß ich die letzte, lange Nacht nicht geschlafen habe. Ich hielt meine Finger um den Puls eines Sterbenden geschlossen, daß er dem lässig gewordenen Hüter Leib nicht heimlich entschleiche ... »Keine Ausreden, junger Mann! Ihr Vater lebt ja noch! Nicht genügend!« ... Herr Gott des Himmels, an den ich geglaubt habe! Wann war es doch, daß ich das letzte Mal an dich glaubte? – Herr Gott, ich bin dir zwar noch viele Gebete schuldig von damals her, als ich dir noch hundert Vaterunser gelobte zum Dank für ein bestandenes Examen oder tausend zur Buße, wenn ich mich selbstbefleckt hatte! – Und dennoch bitt' ich dich: laß ihn noch einmal zu sich kommen, diesen meinen Vater da – und gib mir dann ein Wort, ein Menschenwort! Mir, dem allzu Wörterreichen, der sein Herz hinter Palisaden von Floskeln verrammeln muß! Oder laß mich mit mehr als menschlicher Stimme in die letzten raunenden Spiele seiner entschlafenden Seele flüstern: Vergib mir – vergib! ... Mit tief gesenkter Stimme. Wie weit ist es von A nach B? Darum kannst du morgen gefragt werden. Und deine Antwort wird entscheidender sein für dein Leben als das letzte verzeihende Lächeln deines Vaters. Wer fragt darnach? Wer stellt dich mit dieser Erfahrung an? – Und wenn Engel in jenem ewigen Augenblick durch deine Seele geschritten wären, allen irdischen Mißrat vor deine Schwelle kehrend, wer borgt dir einen Gulden auf dein gereinigtes Menschentum? – Sei niedrig, und es wird dir mit Wollust vergolten! Sei gewöhnlich, auf daß es dir wohlergehe auf Erden! Und wisse vor allem – wie weit es von A nach B ist! – Ich möchte nicht ein zweites Mal geboren werden. Doch wie, wenn man dies erste Mal wegwischte von der schwarzen Tafel seines Bewußtseins? – Reich mir den Schwamm, Mitschüler Gott – ach, lieber nicht den Schwamm! Ich kenne Fälle, da du ihn vorher mit Essig und Galle getränkt hattest. – Es wird schon ein Revolver sein müssen. Der aber kostet Geld. Und man soll seinen Hintritt nicht leichtsinnig verteuern, würde meine Mutter sagen. Bliebe am Ende nur das Fliegenlernen – vom vierten Stock. Warum nicht? Es ist von dort sicher nicht viel weiter hinüber als – von A nach B. Ich muß es doch ausrechnen ...

DIE MUTTER ist leise von links eingetreten, hat einige Augenblicke gespannt lauschend dagestanden und geht nun kaum hörbar auf Gottfried zu, hinter dem sie stehenbleibt. Leise. Sprichst du mit dir selbst?

GOTTFRIED sich rasch gefaßt umwendend. Ich tat es – scheinbar. Und wahrscheinlich, um mich darin zu üben für die Zeit, wo ich niemanden mehr haben werde, dem ich mich verständlich machen könnte –

MUTTER. Und ich bin niemand?

GOTTFRIED traurig. Du bist nach den Überlieferungen unserer Familie meine Mutter.

MUTTER auf den Kranken zeigend. Hast du denn mit ihm so viel gesprochen?

GOTTFRIED. Leider nein. Das war eben das Fieber, in dem ich vorhin delirierte.

MUTTER schmerzlich, eifersüchtig. O doch! Ich weiß schon, wann ihr miteinander gesprochen habt: während der Sonntagsausflüge, auf die ihr mich nie mitgenommen habt! Ich hätte euch wohl gestört, nicht wahr?

GOTTFRIED unbeweglich. Sicherlich – wenn wir gesprochen hätten.

MUTTER. Brauchst nicht im nachhinein zu lügen. Mit einer Art Triumphes. Ich gehe jetzt die Leute vertrösten, denen wir schuldig sind. Damit du's nur weißt!

GOTTFRIED. Ich habe dieses Elend nicht geschickt.

MUTTER unwillig-bittend. Du könntest wenigstens deiner Schwester zureden, daß sie von dem Vorschuß hergibt, den sie bei ihrer Firma genommen hat.

GOTTFRIED stutzig. Hat sie denn das?

MUTTER unsicher. Sie sagt es.

GOTTFRIED sieht sie erst durchdringend an, zuckt die Achseln, dann gedämpft-grotesk. Könnte man nicht ein wenig einheizen, Mütterchen?

MUTTER schneidend. Ist dir kalt? Steck die Hände in die Tasche!

GOTTFRIED. O, mir ist nicht kalt! Mit Handbewegung zum Vater hin. Seinetwegen!

MUTTER. Wenn du noch etwas findest, so heiz es ein. Geht im Hintergrund rechts ab.

 

Nachdem die Mutter abgegangen, bleibt Gottfried einige Augenblicke ihr nachsehend stehen; dann sucht er im Zimmer zusammen, womit er den Kranken zudecken könnte, und breitet das Gefundene liebevoll-zärtlich über ihn. Der Kranke bewegt sich unter diesen Berührungen. Gottfried tritt erschrocken einen Schritt von dem Lager zurück.

 

GOTTFRIED in steigender Erregung. Er bewegt sich! Mein Gott, hast du mich wirklich erhört? Darf ich ihn wecken, du? – Einmal muß ich noch mit ihm allein sein, dieses erste und letzte Mal mit ihm allein! Wie war mein Herz verstockt, eingefroren die Sprache des Kindes zum Vater! Und je mehr Fühler seine Seele nach der meinen aussandte, desto ängstlicher ich. Ist es denn möglich, so sehr zu versäumen? War nie die Furcht, es könnte zu spät werden? Doch, doch! – Er stirbt und hat nicht gewußt, wie lieb ... Er rührt sich! Meine Sehnsucht weckt ihn und mein schuldiges Herz. Vater, wach auf! – Dank dir, Herr des Himmels! Ein paar Worte jetzt, ein paar Menschenworte! Zum Kranken hingebeugt. Vater!

SPULLER sich ein wenig aufrichtend, mit dem Abglanz eines glücklichen Traumes auf dem sterbensblassen Gesichte. Bist du's, Gottfried?

GOTTFRIED leise, ringend. Ich, dein –

SPULLER unruhig. War sonst niemand im Zimmer?

GOTTFRIED. Niemand Fremder.

SPULLER zurücksinkend. Geträumt – nur geträumt.

GOTTFRIED innig, betend. Breitet, Engel, Teppiche auf die kristallenen Stufen des Himmels, denn ein Gerechter naht mit wundgewanderten Füßen –

SPULLER halb wach. Lieber Traum – machte mich schweben. Schmerzfrei und leicht die Brust. – Gottfried!

GOTTFRIED. Vater?

SPULLER schwach, aber selig. Hunger und Durst! – Das ist die Genesung.

GOTTFRIED. Ein wenig Wasser – Reicht ihm ein Glas.

SPULLER. Milch?

GOTTFRIED herb. Nur Wasser.

SPULLER nachdem er getrunken, ein wenig aufgerichtet, mit weiten Blicken. Hier gestanden – an deiner Stelle. Emporgewachsen aus der Erde – und gelächelt – belobt – gesegnet.

GOTTFRIED geheimnisvoll, schmerzlich. Der Engel?

SPULLER traumhaft, groß. Der Kaiser!

GOTTFRIED leise, schaudernd. Der Kaiser!?

SPULLER mit fremder Stimme.) »Sie haben mir gedienet dreimal zehen Jahre und eines. Ich danke Ihnen –« Zweifelnd. Leb' ich noch, Gottfried?

GOTTFRIED inbrünstig. Du lebst, bist! Dein Kind dir zu Füßen!

SPULLER gütig. Knie nicht, Gottfried, mein Kind ... Langsam erwach' ich. Wo war ich die ganze Zeit? – Ist schon Frühling?

GOTTFRIED mit innerem Jubel, leise.

Hänge hat er schon angehaucht,

Südlichen Odems die Schwingen schwer,

Flügelt der Wind vom Gebirge her,

Und die Gärten erschauern.

Und die Gärten ahnen das Meer,

Bruderpalmen im Sonnenschein,

Blühende Winden und blühenden Wein

Auf göttlich verwitterten Mauern.

SPULLER leise, selig. Knospen die Büsche schon, Gottfried?

GOTTFRIED immer gesteigerter.

Alle Zweige sind golden bestickt,

Weidengegitter und Haselgestrüppe

Blühende Lippe an blühender Lippe,

Alles Gestämme voll treibendem Most!

Unersinnbar und unbeschreiblich:

Blütenstäubchen, männlich zu weiblich,

Taumeln durch die gesegneten Lüfte,

Leben in Leben, Düfte in Düfte,

Und die blaugeschatteten Klüfte

Sind von stürzender Schmelze durchtost.

SPULLER wehmütig. Erinnerst du dich noch an unsere Sommersonntage im Freien vor der Stadt?

GOTTFRIED fröhlich.

Müde Augen zu entzücken,

Ausgezogen aus der Stadt,

Häuser, Türme bald im Rücken,

Sonntagsüberfüllte Brücken,

Straßen, Lärmens übersatt.

In Alleen aufgenommen,

Ins Gerausche hingeschwommen,

Aufgefrischt und freuderot;

Brust dem Anhauch dargebreitet,

Herz der Erde aufgeweitet,

Und vergessen alle Not.

Aus den feuchten Ackerschorfen

Lerchen, auf ins Gold geworfen,

Trunken überschlugen sich.

Deine Wangen braun und bräuner,

Immer nur ein Tag, nur einer –

Ach, so selten du und ich!

SPULLER milde lächelnd. Weißt du noch, wie du dich oft gewunden und verborgen hast, um nicht mit mir gehen zu müssen?

GOTTFRIED schmerzlich.

O, wie war deine Freude erschütternd,

Wenn endlich die Stunde des Ausflugs kam!

O, wie verkroch ich mich zag und zitternd,

Ob du auch wirklich den mürrischen Knaben

Wieder wolltest zur Seite haben,

Denn meine Freude ward mürrisch vor Scham.

Daß du mit Stunden dich mußtest begnügen

Nach den trübselig verfristeten Wochen,

Und die Worte voll Heilandsgenügen,

Die du auf Bänken im Wald mir gesprochen –

Ach, sie haben das Herz mir gebrochen,

Und ich habe mich lieber verkrochen,

Verraten mich konnt' ich nicht, wollte nicht lügen.

Hätte mich sonst mit meinen Küssen

Zu deinen Füßen hinstürzen müssen

Und dir aus meinen kindlichen Händen

Mein Herz wie die heilige Blutspeise spenden.

SPULLER lächelnd. Glaubst du, ich hab' es nicht gewußt, Gottfried?

GOTTFRIED zerschmettert. Du – gewußt?!

SPULLER tief. Soll ein Vater sein Kind nicht ken nen?

GOTTFRIED erschüttert, gequält, immer wühlender.

Mich, mich gekannt!?

Und nun liege ich da,

Zerpeinigt von Reu,

Weine bittere Küsse

Auf unwiederbringliche Hände,

Und die zerpochte Brust

Ringt das gelle Gelächter

Des verzweifelten Narren

In ihre Tiefen zurück.

Einer hat mich gekannt,

Und dieser eine?! Zu spät!

Nichts hält die wachsenden Schatten mehr,

Aufgähnt die Erde und birgt den Raub,

Hohnlacht berstender Herzen,

Und wunde Lippen auf kaltem Stein

Wecken die Schläfer nicht.

SPULLER in plötzlicher, aber beherrschter Angst. Ist es so weit mit mir?

GOTTFRIED immer ekstatischer.

Nein, du wirst leben!

Sterblich bist du nicht!

Hast ja gewirkt, geliebt,

Warst ja beglückt, betrübt,

Hast dich ergeben.

Sag mir, wie konntest du's?

Ich, ich vermag es nicht,

Ich Spätgeborener,

Allzufrüh Wissender,

Wissens Müder.

Ich Hungrig-Vergrämter,

Lüstern-Verschämter,

Zum Nehmen zu brach,

Zum Verzichten zu schwach,

Und im Blut

Der Neid!

Kein Geiler nach fremdem Gut!

Aber warum nur die andern:

Gold, Liebe, Welt?!

Warum nicht ich, nicht du?

Ich, du auch!

Warum nicht wir?

Uns auch Glück!

Armut, Armut,

Was werd' ich durch dich!?

SPULLER leise, überirdisch.

Ein Bettler,

Wenn du nur danach brennst,

Was die andern haben und sind –

Ein Mensch,

Wenn du leidend erkennst,

Daß andere immer noch ärmer sind –

Ein Dichter,

Wenn du die Herzen wirbst,

Die sonst für die Armut verhärtet sind –

Ein Heiland,

Wenn du für jene stirbst,

Die deine verstoßenen Brüder sind.

 

Er legt seine Rechte segnend auf Gottfrieds Haupt.

 

Nun wähle, mein Kind!

 

Spuller lehnt sich mit geschlossenen Lidern und einem mattseligen Gesichtsausdrucke ein wenig in seine Polster zurück. Seine Hand gleitet von dem Scheitel des Sohnes. Dieser hat sein Haupt unter der segnenden Berührung tief gesenkt und vergräbt jetzt das Antlitz an den Knien des Vaters.

In dieser Stellung verharrt er während der folgenden Szene.

Tiefe Stille. Die Tür im Hintergrunde rechts öffnet sich lautlos.

Ein fremder Herr tritt ein. Er geht mit gemessenen, unhörbaren Schritten durch den Hintergrund und bleibt an dem linken Kopfende des Bettes derart in einigem Abstand stehen, daß der Blick des Kranken auf ihn fallen muß.

Der fremde Herr trägt dunkelaschgraue Kleidung. Der bis zum Kinn zugeknöpfte Paletot und die etwas schlotterigen Beinkleider sind von zeitlosem Schnitt.

In der einen seiner gleichfalls grau behandschuhten Hände hält er einen Schlapphut von undefinierbarer Farbe.

Die Gestalt des Herrn ist mittelgroß und knochig, sein Schädel beinahe kahl, sein Antlitz graublaß, von unfeststellbarem Alter. Die Farbe seines Schnurrbartes sticht kaum von der seines Gesichtes ab. Der Fremde sieht aus wie ein greiser Beamter. Aber in seiner Haltung ist geschmeidige Kraft, in seiner Stimme Metall, das hell und dumpf, gütig und unerbittlich zu klingen vermag. Einige Augenblicke, nachdem der Fremde an ihn herangetreten ist, schlägt Spuller die Augen auf, gewahrt die Erscheinung mit einem Blicke, dem er sichtlich nicht traut, und sieht sie mit fragendem Befremden an.

 

DER FREMDE lächelnd, mit freundlicher, gedämpfter Stimme.

Guten Abend, mein Kompliment –

SPULLER unsicher.

Wer sind Sie?

DER FREMDE mehr für sich.

Seltsam, daß keiner mich je erkennt.

SPULLER nach einigem Forschen.

Sie scheinen mir allerdings bekannt –

DER FREMDE.

Das freut mich.

SPULLER etwas sicherer.

Sie sind mein Herr Amtsvorstand –?

DER FREMDE beziehungsvoll.

Der Ihrige und – so im allgemeinen.

Doch sind wir nicht immer nur das, was wir scheinen.

SPULLER vorsichtig.

Sie scheinen mir allerdings recht – verändert:

Das Antlitz so blaß, die Augen gerändert

Und so was Gealtertes um den Mund!

Sie sind doch nicht auch krank?

DER FREMDE mit flüchtigem Lächeln.

Nein, ich bin gesund.

SPULLER bekümmert.

Das kann ich leider von mir nicht sagen.

DER FREMDE.

Das wird schon kommen.

SPULLER erregt.

Seit einigen Tagen

Fühl' ich mich allerdings im Genesen.

Nur die Augen sind noch zu schwach zum Lesen

Und die Hand noch ein wenig zu müd zum Schreiben.

Würd' sonst dem Amte nicht fernebleiben!

Doch ich will, was ich versäumt und verpaßt,

Nachholen, sobald ich –

DER FREMDE mit großer Ruhe.

Nur keine Hast!

SPULLER gequält.

Ich bin ja, Herr Vorstand, noch nicht so alt

Und kann noch gute zehn Jahre dienen,

Und meine Familie braucht den Gehalt –

Man wird mir doch nicht ...?

DER FREMDE mit Anteil.

Was lastet auf Ihnen?

SPULLER angstvoll.

Man wird mir doch nicht – den Abschied geben?

DER FREMDE.

Seien Sie ruhig – in diesem Belang.

SPULLER befreit.

Das quälte mich so!

DER FREMDE gütig.

Darum komme ich eben

Und bringe – Frieden!

SPULLER selig-verträumt, innig, leise.

Vielen Dank! – Gott sei Dank.

DER FREMDE nach einer Pause im Tone freundschaftlichen Gespräches.

Doch nun, da diese Besorgnis vorüber –

Wir haben zusammen noch etwas Zeit –

Wollen wir ein wenig plaudern, mein Lieber,

Vom Leben und von der Vergangenheit.

SPULLER lächelnd, wie in seliger Erinnerung.

Ach ja, das Leben!

DER FREMDE.

Sie waren zufrieden?

SPULLER wie oben.

Und ob! Es war ja doch oft so reich!

DER FREMDE.

Und hat Ihnen doch so wenig beschieden!

SPULLER mit gütiger Verwahrung.

Wieso denn? Man muß doch nicht immer gleich

Die Sterne vom Himmel herunter verlangen!

Mehr als den Abglanz von allen Sonnen,

Mehr als die Sehnsucht nach allen Wonnen,

Was sie auch trachten, treiben und sinnen,

Können Menschen doch niemals gewinnen!

DER FREMDE mit freundlicher Überlegenheit.

Bei dieser Philosophie, mein Verehrter,

Wär' es in dieser löblichen Welt

Etwas allzu geruhsam bestellt.

Aber in Wirklichkeit ist viel begehrter,

Was Sie verschmähen: Genuß und Geld!

SPULLER.

Leider Gottes.

DER FREMDE beinahe lebhaft.

Wie man es nimmt!

Ich für meinen Teil hoffe bestimmt,

Daß sich die Menschen zu Ihren Lehren

Nicht so bald und willig bekehren,

Weil sonst – Ihre Gesinnung in Ehren! –

Diese Komödie kein Ende nimmt.

SPULLER betroffen.

Von diesem Standpunkt, muß ich gestehen,

Hab' ich die Sache noch niemals besehen.

DER FREMDE gelassen.

Wohl! Diesen erweiterten Horizont

Hat niemand, der selber auf Erden wohnt.

SPULLER ahnungsvoll.

Und Sie?

DER FREMDE erst lächelnd, dann mit steigender Kälte.

Ja, ich, mein Lieber – wie sagt man da schon? –

Steh' quasi über der Situation.

Ich hätte mich nämlich noch mehr zu plagen,

Würden alle so gütig wie Sie entsagen.

Doch so sind die meisten, Gott sei Dank,

Schon durch ihre eigene Habgier krank.

Denn der Hunger nach wirklichem Haben

Frißt schon an Kindern und ängstigt die Knaben,

Altert die Männer, entnervt die Weiber,

Verwirrt die Seelen, zermürbt die Leiber,

Peitscht sie wie ein irrsinniger Treiber

Millionenscharenweise

In meine Netze, in meine Kreise,

Daß sie wie Fliegen in Schwefeldünsten

Samt ihren Lüsten, Süchten und Brünsten

In der Masse zugrunde gehen!

Brauch' nicht nach jedem besonders zu sehen.

 

Mit gütig verändertem Tone.

 

Nur zu den Seltenen, Gütigen, Klaren

Komm' ich höchstselber vorgefahren –

Ich darf wohl hoffen, daß Sie mich verstehen!

SPULLER nickt mehrmals traurig, dann leise.

Und wie lang ist noch Zeit?

DER FREMDE nachdem er auf eine altertümliche Taschenuhr gesehen, fest.

Dreimal sechzig Sekunden.

Mein Fahrplan ist unerbittlich genau.

SPULLER angstvoll.

Und wohin geht die Reise? Nach oben? Nach unten?

DER FREMDE mit gütig erhobener Stimme.

Immerzu aufwärts ins ewige Blau!

SPULLER in wachsender Beklemmung.

Hätte noch manches vielleicht zu besorgen,

Habe zum Sterben noch nicht die Ruh'!

DER FREMDE mit steigender Wärme und Stärke.

Überlaß' es nur denen, die morgen

Nicht so verklärt sein werden wie du!

SPULLER.

Wovon werden die Meinen leben,

Wenn ich nicht mehr verdiene, wovon?

DER FREMDE.

Du hast ihnen all dein Leben gegeben,

Sterben darfst du für dich, mein Sohn!

SPULLER.

Hab' ich denn nichts mehr zu beichten und schlichten?

DER FREMDE.

Liebe Seele, frag nicht danach!

SPULLER.

Schlecht war ich ja nicht, nur manchmal so schwach –

DER FREMDE mit liebevollem Vorwurf, stark.

Schwäche nennst du dein großes Verzichten?!

Glaub mir, nicht viele der Menschenwerke,

Die bewundert auf Erden sind,

Brauchten solche vollbringende Stärke

Wie in diesem besessenen Treiben,

Diesem gierigen Haschen nach Wind

So ein seliger Armer zu bleiben,

Wie es du vermocht hast, mein Kind!

SPULLER immer verklärter und kindlicher.

Also nah' ich mich der Vollendung

Doch nicht als ganz so belanglose Fracht?

DER FREMDE liebreich.

Nein, als besonders köstliche Sendung

Wirst du von Engeln überbracht.

SPULLER kindlich bittend.

Aber heiß sie gut Obacht geben!

Bin so gebrechlich von manchem Leid –

DER FREMDE.

Laß gut sein!

Die dich heben, die mit dir schweben,

Boten Gottes wissen Bescheid.

 

Der Fremde berührt die Hand des Sterbenden, der selig lächelnd mit einem tiefen, erlösten Seufzer zurücksinkt. Die Erscheinung hält noch einen Augenblick zu Häupten des Toten inne, dann geht sie ebenso lautlos wie sie gekommen ab.

Die Wanduhr schlägt gemächlich die siebente Stunde.

Der Vorhang fällt.

 

 

 

Actus quintus

Requiem con sordino

 

Dasselbe Zimmer wie im vorigen Akt.

Abend. Der Raum ist nur durch die Stehlampe erhellt, welche auf dem Speisetisch brennt. Links vorne, an seinem ursprünglichen Platze, steht das Bett des alten Spuller mit dem Kopfende gegen das Publikum. Darinnen der Tote, dessen Knie und Füße sich unter dem weißen Linnen, mit dem er bis zur Brust bedeckt ist, deutlich abzeichnen. Das Haupt bleibt unsichtbar. Man sieht nur die gefalteten Hände, die einen kleinen Primelstrauß halten. Zu Häupten des Bettes, mit einem dunklen Tuche bedeckt, ein einfaches Küchenstockerl, darauf ein Kruzifix und zwei brennende Kerzen.

Mutter und Marie in schwarzen Kleidern am Tische.

Die Mutter ist damit beschäftigt, in ein abgegriffenes Notizbuch Ausgaben einzutragen. Marie arbeitet an einem schwarzen Kleidungsstücke. Neben ihr auf dem Tische liegen schwarze Stoffe und Schleier. Sie läßt aber die Arbeit oft ruhen und starrt vor sich hin. Im Zimmer auf- und abgehend, Gottfried. Er bleibt manchmal stehen und verweilt mit seinen Blicken auf dem Verstorbenen.

Alles in diesem Akte wird gedämpft gesprochen.

 

MUTTER. Was hat der Totenbeschauer bekommen?

MARIE teilnahmslos. Ich weiß es nicht mehr, Mutter.

MUTTER nach einigem Nachsinnen. Vier Kronen, glaub' ich. Schreibt ein.

GOTTFRIED beim Toten, halb für sich. Vier Kronen! Damit hättest du dir einen Tag machen können, was? Unsere freien Tage jenseits der Steine durften die Hälfte kaum kosten. Vier Kronen – ein wenig viel für die Feststellung einer Tatsache, die ohnehin bekannt ist und – unwiderruflich.

MUTTER. Wieviel hast du für die Schleier ausgegeben, Marie?

MARIE gibt ihr einige Zettel. Da hast du die Belege.

MUTTER. So viel?

MARIE. Es waren die billigsten.

 

Mutter schreibt seufzend ein.

 

GOTTFRIED wie oben. Jene andern, denen das Leben gehört, dämpfen die Gemächer mit dunkeln Velouren, und die Gerüche des Sterbens ertränken sie in Strömen von Blumen. Dir umspielt ein Pfennigslicht das schattenzerklüftete Antlitz. Nur ein Büschel von Primeln hab' ich für deine Hände gepflückt.

MUTTER. Was wird Gottfried zum Begräbnis anzie hen?

 

Marie sieht sie abwesend an.

 

GOTTFRIED. Ich werde die Schande überleben, in meinem Alltagsgewand dem Kondukt meines Vaters gefolgt zu sein.

MUTTER abweisend. Das geht nicht.

GOTTFRIED. Warum? Ich werde ein Gesicht machen, so sehr von Trauer verstört, daß die Blicke der Festgäste, von seinem Ausdruck gebannt, kaum auf meine Kleidung hinabgleiten werden.

MUTTER entschieden. Du wirst den Gehrock des Vaters anlegen!

GOTTFRIED in seiner grotesken Art, aber sehr gedämpft. Meines verewigten Vaters Bratenrock würde auf meiner um gut zwanzig Zoll höheren Statur immerhin einen Anblick bieten, komisch genug, um den Jammer einer ganzen Familie zu versinnbilden. Da es jedoch Sitte ist, Verstorbene in entsprechend ernster Gewandung vor den Richterstuhl Gottes treten zu lassen, so werde ich von meines Vaters einzig möglichem Sterbekleid ganz bestimmt keinen Gebrauch machen.

MARIE um einem Konflikt vorzubeugen. Laß ihn, Mutter!

MUTTER unfreundlich. Mach, was du willst.

GOTTFRIED wieder halb für sich. Dieser Angriff wäre somit abgeschlagen. Quibus rebus bene gestis Caesar in Vercingetorigem cohortes duxit. – Im übrigen entsinne ich mich dunkel, seit fast vierundzwanzig Stunden nichts gegessen zu haben. Wäre dem abzuhelfen?

MUTTER hart. Hast du Hunger, Marie?

MARIE. Nein, Mutter.

MUTTER. Ich auch nicht.

GOTTFRIED. Ich somit gleichfalls nicht. Er schnürt sich den Leibriemen enger. Die Spesen des Todes verschlingen die Speisen der Lebendigen. Ich ziehe mich zurück, um Aufgaben zu machen. Denn es könnte sein, daß ich morgen geprüft werde. Geht durch die Türe links langsam ab.

MARIE bekümmert, vorsichtig. Ist gar nichts zu essen da – für Gottfried?

MUTTER gereizt. Brot und ein wenig Milch in der Küche.

 

Marie erhebt sich schwer, um es zu holen.

 

MUTTER vorwurfsvoll, indem sie aufsteht, um selbst zu gehen. Laß! Sieh zu, daß du die Hüte fertigbringst! Es klopft an der Tür rechts.

STRANTZ tritt ein. Er trägt schwarzen Rock und hat die Feierlichkeit eines Beileidbesuchers. Vor der Mutter, die ihm entgegenkommt, verneigt er sich tief und murmelt. Mein herzlichstes Beileid.

MUTTER ihm die Hand reichend. Danke. An ihm vorüber ab.

STRANTZ einige Schritte gegen den Toten hin, vor dem er ein paar Augenblicke verweilt, dann zu Marie gewendet, die er fragend ansieht, leise, erschüttert. Marie –

MARIE klar und mild. Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind.

STRANTZ. So Sie wiederzusehen –

MARIE mit schmerzlichem Lächeln. Wir haben den Armen nicht mehr retten können. So nehmen Sie zurück, was Sie mir gegeben haben. Sie entnimmt ihrer Tasche ein ziemlich zusammengeknittertes Kuvert und reicht es ihm hin. Ich habe es nicht angerührt. Nicht einmal geöffnet. Etwas ungeduldig. Nehmen Sie es doch! Strantz nimmt es. Vielen Dank.

STRANTZ schamvoll. Danken Sie mir nicht! Ich schäme mich ja so. Wie ein Tier habe ich mich benommen –

MARIE milde. Wenn jemand Ursache hat, sich zu schämen, bin ich es. Auf eine abwehrende Bewegung seinerseits. Doch, doch, ich hätte Sie nicht bitten dürfen, gerade Sie nicht.

STRANTZ. Sie sind zu mir gekommen, rein, edel und vertrauensvoll. Und ich?

MARIE. Die Angst machte mich fassungslos. Aber dann – habe ich selbst Sie in die Rolle hineingetrieben, die Sie gespielt haben.

STRANTZ. Wirklich nur eine Rolle! Ich bin nicht so gemein, wie ich mich gegeben habe. Ich bin es nicht.

MARIE. Wir sind beide nur Menschen, Sie und ich, nicht wahr?

STRANTZ zerknirscht. Ich damals nicht! Ich war so besessen von dem einen, einzigen Gedanken, daß ich ihn nicht einmal in jenem Augenblick vergessen konnte. Elend genug von mir.

MARIE weich. Sie haben es ja gutgemacht. Denn Sie haben Ihr Versprechen gehalten – ich nicht.

STRANTZ inbrünstig. Ich danke Ihnen, daß Sie es nicht gehalten haben.

MARIE mit schmerzlichem Lächeln. Es war nicht mein Verdienst. Es war ein Vater, der nicht wollte, daß sein Kind ihm Opfer bringe. So beeilte er sich zu sterben. Sie nickt.

STRANTZ überquellend. Ich weiß, daß es nicht der Augenblick ist. Ich bin ja auch noch nicht frei in der Bestimmung über mich selbst. Trotzdem – meine Eltern haben nur mich. Sie werden mir die Bitte nicht abschlagen, wenn ich ihnen sage: ich habe an einem Mädchen schlecht gehandelt, schlechter als ein gewöhnlicher Verführer, an einem Mädchen, das – Er unterbricht sich.

 

Die Mutter geht im Hintergrunde über die Bühne mit Milch und Brot für Gottfried und verschwindet links.

 

MARIE milde. Nehmen Sie es als ein Zeichen des Schicksals, daß meine Mutter Sie darin gestört hat, es auszusprechen! So ist ein vielleicht bitteres Nein erspart – uns beiden.

STRANTZ traurig-leidenschaftlich. Warum, warum denn »Nein«?

MARIE abgeklärt. Ihnen hat das Leben ganz anderes vorbehalten als ein armes Mädchen, das sich Ihnen beinahe – verkauft hätte. Still, still! Ich würde es ja vielleicht vergessen können, Sie aber nicht.

STRANTZ beschämt. Ich verdiene nicht, daß Sie besser von mir denken.

MARIE. Ich denke nicht schlecht von Ihnen. Nur etwas erfahrener bin ich, weil wir Armen das Leben tiefer kennen lernen. Heute glauben Sie noch, Ihre Ehre fordere es, gutzumachen, woran Sie nicht schuld sind. Aber morgen, vielleicht auch erst übermorgen, würden Sie es sehen, wie ich es schon heute sehe. Und dann wäre es zu spät und schade um uns beide.

STRANTZ hilflos. Wenn ich aber nur Sie und niemand anderen liebhabe –

MARIE. Heute vielleicht – sicherlich in diesem Augenblick. Aber wir kommen viel zu weit voneinander her. Eine schwebende Gefährtin wäre ich nicht. Viel zu Schweres liegt in meinem Blute. Sie aber brauchen vorher noch Leichtigkeit. Viele Tänzerinnen gehören noch in Ihre Arme, bevor Sie sagen können: diese, nur diese! Sie reicht ihm die Hand hin, die er inbrünstig küßt. Es läutet draußen bescheiden. Marie lächelnd. Es läutet. Hören Sie es? Zum zweitenmal das Zeichen des Zufalls, daß Sie verschweigen sollen, was lieb – und töricht wäre. Sie streicht ihm leise mit der Linken über das Haar und entzieht ihm sanft ihre Rechte.

 

Strantz nach tiefem, schmerzlichem Anschaun rasch ab.

Es läutet zum zweitenmal bescheiden.

Marie steht einige Augenblicke schmerzlich erregt da und sieht Strantz nach. Dann, nachdem sie sich bezwungen, streicht sie mit einer ganz verträumten Handbewegung über ihre Stirne und geht mit Entschluß hinaus. Einige Augenblicke später kehrt sie zurück, gefolgt von Vogt. Sie geht zur Tür links und öffnet diese. Mutter und Gottfried treten ein.

Vogt ist ein kleines Männchen in berufsmäßig schwarzen Kleidern. Er hat einen graugelockten Künstlerkopf und trägt eine Art Vatermörderkragen, der ihm etwas Altmodisch-Gemütliches verleiht. Seine Nase hat einen leise bläulichen Schimmer.

Seine Äuglein sind von großer Beweglichkeit und machen den Eindruck nur mühsam beherrschter Lustigkeit. Er ist nicht unähnlich einem alten Schmierenkomiker, der eine tragische Rolle zu spielen bemüht ist. Er spricht ein absichtliches Hochdeutsch mit Dialektfärbung.

 

VOGT mit Kratzfüßen. Mein Name ist Vogt, mein Name ist Vogt, Beamter der Leichenbestattungsunternehmung »Pax«. Gestatten die Herrschaften –

GOTTFRIED. Ich würde sagen, daß mich Ihre Bekanntschaft freut, Herr Vogt –

VOGT verbindlich. Wenn der Anlaß nicht so erschütternd wäre.

GOTTFRIED kaustisch. Richtig. Geradezu erschütternd.

VOGT feierlich. Gestatten die Herrschaften, daß ich Ihnen vorerst mein wärmstes Beileid ausdrücke.

GOTTFRIED. Ich danke Ihnen im Namen der Hinterbliebenen.

VOGT nachdem er sich geräuspert. Ich darf wohl voraussetzen, daß die Herrschaften noch nicht anderweitig disponiert haben.

GOTTFRIED. Gewiß nicht. Sie sind so glücklich, der erste am Platze zu sein.

VOGT. Das wollte ich nur wissen. Wir haben nämlich in unserer Branche, leider Gottes, mit einer ganz besonders zudringlichen Konkurrenz zu rech nen.

GOTTFRIED anzüglich. Das glauben wir Ihnen aufs Wort, Herr Vogt.

VOGT unterdrückt ein Lächeln und wendet sich zur Mutter. Darf ich nunmehr –?

MUTTER. Nehmen Sie Platz! Sie setzt sich an den Tisch rechts.

 

Vogt nimmt unter allen möglichen Umständen an der Hintergrundseite des Tisches Platz.

Marie hat inzwischen ihre Näharbeit vom Tisch genommen und sich auf den Schlafdiwan rechts gesetzt, wo sie ganz in sich zu versinken scheint.

 

GOTTFRIED. Noch eins, Herr Vogt! Ich möchte Sie nur kurz darauf aufmerksam machen, daß wir ein eigentliches Sterbezimmer nicht besitzen. Das vorliegende, welches zugleich Schlaf-, Speise- und Studierzimmer ist, hat aber seinen Zweck vollkommen erfüllt. Dies zu Ihrer gütigen Darnachhaltung, bevor Sie uns Ihre geschätzten Offerte stellen. Er wendet sich dem Toten zu.

VOGT mit Verbeugung. Sehr verbunden.

MUTTER. Das dürfte Herrn Vogt nur wenig interessieren.

VOGT. O, ganz im Gegenteil! Es gibt immerhin ein Bild. Räuspert sich. Darf ich mir nunmehr die Frage erlauben, unter welchen Modalitäten Ihnen die Beisetzung des Herrn Gemahls angenehm wäre?

MUTTER. Ich möchte, daß mein Mann standesgemäß begraben wird.

VOGT. Das unter allen Umständen! Meine Firma legt ganz besonderes Gewicht darauf, daß niemand unter seinem Stand beerdigt wird. Und kommen wir daher allen speziellen Fällen mit der größten Kulanz entgegen. Die Grundlage der Preisbestimmung bildet allerdings unser fixer Tarif, den ich mir hiermit vorzulegen gestatte. Er entnimmt mit mechanischer Sicherheit seiner Überziehertasche ein Paket von Drucksorten. Wollen die Dame vielleicht gütigst Einsicht nehmen!

GOTTFRIED beim Toten, leise.

Stand nicht noch gestern in deinem Traum

Sonniger Abhang und blühweißer Baum

Und alles voll treibendem Moste? –

Und heut schon ein Totes, von dem man nur denkt,

Wie man es rasch in die Erde versenkt

Und daß es nicht allzuviel koste!

VOGT gedämpft. Haben gnädige Frau bereits eine bestimmte Tarifklasse ins Auge gefaßt?

MUTTER rauh. Was ich bisher gesehen habe, kommt für uns wohl leider nicht in Betracht.

VOGT. Dann belieben, gefälligst zu wenden! Hier bitte! Wenn ich raten darf, so würde meiner An sicht nach Tarifklasse römisch fünf wohl am besten Ihren Intentionen entsprechen. Durchschnittlich siebzig Prozent aller Sterbefälle pflegen wir in dieser Art zu behandeln. Immer leiser werdend. Da haben Sie noch komplette Aufbahrung und Glaswagen, der Tote ruht in einem soliden Holzsarge.. Spricht leise und eindringlich weiter.

GOTTFRIED am Rande des Bettes sitzend.

Mir bist du noch wie ein Schläfer vertraut,

Als könnte gleich wieder ein Lächeln, ein Laut

Dies wächserne Schweigen beleben.

Und immer wieder rühre ich leis

An deine Hände aus grausamem Eis,

Ob sie kein Zeichen mir geben.

 

Berührt die Hände des Toten.

 

MUTTER zögernd. Und wenn wir die nächstniedere Klasse wählen?

VOGT räuspert sich. O gewiß! Auch diese repräsentiert noch immer ein ganz gutbürgerliches Begräbnis. Es entfällt allerdings die Aufbahrung. Gleichwohl ruht die Leiche auch hier in einem soliden Holzsarge von schwarzer oder brauner Politur mit Metallbeschlägen. Derselbe wird von sechs Bediensteten der Unternehmung gehoben und mittels einfachen Fourgons in die Kirche und von da auf den Friedhof überführt.

MUTTER. Und die Taxe?

VOGT. Wird in dieser Klasse nach Vereinbarung festgesetzt, je nachdem das eine oder das andere von den nächsthöheren Klassen dazugewünscht wird. Ich werde mir erlauben, die billigste Kombination zu berechnen. Rechnet mit Papier und Bleistift.

GOTTFRIED wie oben.

Die Hände sind stumm, verloschen der Held.

Wo bleiben Trabanten und Knappen? –

Ja, fehlte es nicht an dem leidigen Geld,

So führest auch du in die andere Welt

Sechsspännig mit nickenden Rappen.

Ein spanischer Reiter ritte voran,

Zwölf Galonierte folgten sodann

Mit Fackelgeschwele und Wappen;

Und Blumen, Weihrauch und Glockengesang,

Die Straßen und Fenster von Menschen gedrang

Und tausender Blicke Verschwimmen;

Und Arme und Kranke strömten herbei

Und übertönten die Klerisei

Mit psalmodierenden Stimmen.

VOGT der Mutter einen Zettel hinreichend. Sind gnädige Frau mit dieser Berechnung einverstanden?

MUTTER kleinlaut. Wenn die Beerdigung dann noch standesgemäß ist –

VOGT. Durchaus standesgemäß. Ich würde sonst nicht dazu raten. Er verneigt sich und nimmt ein schwarzes Notizbuch, in das er schreibt.

GOTTFRIED abschließend, mit verändertem Ton.

Doch so wird ein rumpelnder Kastenwagen

Dich hurtig hinaus auf den Acker tragen,

Einen Namen zu vielen Namen.

Drei Schaufeln Lehmerde auf deine Truhe,

Dann hast du deine ewige Ruhe,

Und wir sind noch ärmer geworden – Amen.

 

Steht auf und wendet sich den andern zu.

 

VOGT mechanisch. Somit findet das Leichenbegängnis Donnerstag, den 17. März, um präzise zweieinhalb Uhr nachmittags vom Trauerhause Murmelt die Adresse. aus statt. Die heilige Seelenmesse wird Freitag um sieben Uhr morgens gelesen werden.

GOTTFRIED wieder vollkommen beherrscht. Erlauben Sie, Herr Vogt! Können Sie mir verraten, wie Sie zu diesem Erwerbe, der seinen Mann zu ernähren scheint, gekommen sind? Ich stehe nämlich unmittelbar vor der Berufswahl.

VOGT erstaunt, ein Lächeln unterdrückend. O, ich habe ein buntes Leben hinter mir.

GOTTFRIED. Also nicht immer in Schwarz?

VOGT. Bei weitem nicht. Angefangen habe ich allerdings auch so ähnlich. Aber dann hat mich dieses Geschäft nicht mehr gefreut, und ich wurde der Reihe nach Versicherungsagent, Hotelportier und Sekretär in einer Stellenvermittlung. Bis ich schließlich wieder zu meiner ursprünglichen Branche zurückgekehrt bin. Es kann doch schließlich keiner aus seiner Haut heraus. Mit Genugtuung. Und heute leite ich die Filiale meiner Firma im hiesigen Bezirke.

GOTTFRIED. Und haben Frau und Kinder?

VOGT mit Bürgerstolz. Gott sei Dank!

GOTTFRIED vor sich hin. Ich habe Gymnasium studiert und werde vielleicht sogar eine Fakultät absolvieren. Werde ich jemals Frau und Kinder haben?

VOGT gänzlich verständnislos, ein Lächeln unterdrückend, mit Verbeugung. Es war mir –

GOTTFRIED mit wehem Lächeln. – ein besonderes Vergnügen. Ganz meinerseits.

VOGT. Guten Abend, die Damen. Ab.

 

Gottfried läßt sich auf den Sessel am Tisch links nieder und starrt vor sich hin.

 

MUTTER nach langem Schweigen, unbeweglich, mit rauher, mühsamer Stimme.

Wenn ich zurückdenke, was es gewesen,

Das Leben, die Ehe, Jahr für Jahr –

Ich hab' einmal eine Geschichte gelesen

Von zweien, die arm und glücklich gewesen,

Doch diese Geschichte ist – nicht wahr.

Schon wie es anfing! Das lange Warten,

Bis wir uns endlich das bißchen ersparten

Für den bescheidenen Hausstand zu zwei'n:

Und kaum verheiratet, kaum geborgen,

Kam schon das erste Kind, und die Sorgen

Brachen bei allen Türen herein.

MARIE qualvoll.

Hat es denn, Mutter, in deinem Leben

Nicht auch glückliche Stunden gegeben?

MUTTER herb.

Glückliche? Die paar sind leicht zu ermessen!

Einmal – ich hatte ein kleines Los

Noch von der Taufe her, längst schon vergessen.

Da ward es gezogen. Der Gewinn war nicht groß.

Aber für uns war's ein goldener Regen.

Wollten erst alles auf Zinsen anlegen,

Aber dann siegte der Leichtsinn doch,

Und statt es fürs Unglück aufzubewahren,

Sind wir damit aufs Land gefahren,

Das erste- und letztemal in all den Jahren –

Fast jedes Baumes entsinn' ich mich noch.

MARIE flehend.

Mutter, such' doch in deinem Gedächtnis

Nach der kleinsten Freude Verbleib!

Ist dir denn nie sonst was Liebes geschehen?

Will es nicht glauben, will's nicht verstehen!

Müßte sonst vor Ängsten vergehen,

Bin doch ein junges, gewärtiges Weib.

MUTTER nach einer Pause des Schwankens zwischen Weichheit und Abweisung mit sich steigernder Starrheit.

Ansonsten hab' ich nichts Frohes erfahren.

War doch nur ein Fristen von heut zu heut.

Immer nur arbeiten, rechnen und sparen

Und nach außen die Haltung bewahren,

Daß es nicht heiße: die Bettelleut'!

Der Vater vergrub sich in seine Pflichten,

Er war ja ein Meister im Verzichten,

Ihr Kinder wart seine einzige Freud',

Und wenn ich einmal für mich was begehrte,

War immer ein Grund da, der es verwehrte;

Ich war ja auch alt geworden lang vor der Zeit.

Euch hat er umgeben mit allem Lieben,

Mir ist er manches schuldig geblieben,

Und ich war doch immer für ihn bereit.

 

Wendet sich zum Gehen.

 

MARIE auf die Mutter zu.

Mutter, wir wollen alles gutmachen!

MUTTER bitter.

Könnt ihr denn das?

MARIE innig.

Glaub, Mutter, es geht!

Nur mußt du selbst uns ein klein wenig Mut machen.

GOTTFRIED bemeistert.

Mutter –

MUTTER bewegt, aber rauh.

Was willst du?

GOTTFRIED mit versagender Stimme.

Dich liebhaben –

MUTTER einen Augenblick lang überwältigt, dann immer härter.

Spät

Ist dir das eingefallen! – Zu spät!

 

Sie bleibt noch einige Augenblicke starr vor sich hinsehend stehen, dann geht sie links ab.

 

GOTTFRIED nach langem Schweigen, hochaufgerichtet, leise.

Eispanzer schmelzen von meiner erschütterten Brust,

Föhnwind taut mir die blühenden Gründe frei,

Und vom schmerzenden Blick schwindet die Nebellast. –

Wein' nicht, Maria! Gib nicht die strömende Wärme her!

Viel zu kalt für Tränen ist es in dieser Welt.

Hör mich, Maria! Ein Amt ist verliehen uns:

Armut heißt es und will verwaltet sein,

Wachsam, keusch und genau, daß nicht der lüsterne

Blick auf das Glitzern fällt, das uns verführen will.

MARIE mit schmerzlicher Auflehnung.

Ist kein Erbarmen uns

Liebreich gegeben?

Ist denn den Armen uns

Sünde, zu leben?!

GOTTFRIED immer leidenschaftlicher.

Leben, Leben! Sünde, nein, ist es nicht,

Wenn sich der Sehnsucht die Kraft trotzig hinzugesellt!

Aber wir, Müden nachgeborene Müdere?!

Abgestanden das Blut und immer doch aufgepeitscht

Von der Sucht des Gehirns, das sich mit allem verbuhlt,

Was uns verschlossen ist! – Das ist ja unsere Armut!

Glaubst du, ich weiß nicht, wie auch aus deinem Blut

Leben, Liebe heischender Duft aufsteigt?

Wärest ja blind, sähest die Gärten du nicht,

Wie sie abends voll Lachen und Geigen sind!

Wärest ja stumpf, wenn deine Träume nicht

Auch in Seide gingen und Edelgestein

Auf den Brüsten, die glühend von Küssen sind!

Aber greif nur darnach, und Geschmeide ist Hurenlohn;

Gib dich nur liebend hin, und Liebe wird Schande dir;

Frei' einen Gatten und schenk ihm, was Glück sonst ist:

Kinder! Und sie werden zu Hunger euch.

Alles ist anders, wenn es uns Armen begegnet,

Labsal der andern, an unsern Lippen, wird Bitternis.

MARIE sich an ihn drängend.

Lüfte die Schleier nicht,

Es ist zu fürchterlich!

Leben sonst kann ich nicht.

GOTTFRIED mit wachsender Größe.

Leben – Leben! Was hilft es, mit geschlossenen Augen

In den Abgrund zu springen, der Leben heißt?

Wir kommen ja doch nicht tot, nur zu Krüppeln geschlagen

Kommen wir unten an. –

Da gibt es vielleicht nichts andres, als um sich zu sehen,

Wo ringsum die andern, die vielen, kümmern, nisten und fristen.

Seen sind dort von Schweiß und Fluren von schädlichen Keimen,

Städte, aus Herzen gebaut, die Steine geworden vor Jammer,

Türme aus Ängsten und Dome von unerhörten Gebeten.

Orgeln aus Menschenkehlen, aus heisergeschrieenen,

Speien den röchelnden Schrei empor an die Ränder des Abgrunds,

Wo auf tändelnden Füßen die Tänzer des Lebens sich tummeln,

Tauber als Taube, die Gott selber mit Taubheit schlug!

 

Mit großer Liebe.

 

Vielleicht, daß einer dann ist – ob Mensch, ob Dichter, ob Heiland –

Der sich Stufen auftürmt aus dem Abgrund empor.

Und er tritt zu den Tänzern und spricht zu ihnen im Gleichnis,

Und die Reumütigen führt er zu liebreichem Werk.

Doch die Verstockten, die Heuchler, die Makler, die Wechsler

Trifft sein heiliger Zorn mit der Peitsche ins Fleisch!

 

Schmerzlich, leise, gesenkt.

 

Daß sie durch eigenen Schmerz die Leiden der Brüder erlernen –

Denn dies gottlose Volk hört ja nicht auf ein Gedicht.

VOX COELESTIS allen Raum erfüllend.

Agnus cum agnis,

Lupus in lupos!

VOCES DE PROFUNDIS in infinitum.

Miserere!

 

Der Vorhang fällt langsam.