Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Über "In Ewigkeit Amen"
In Ewigkeit Amen
Über "Armut"
Armut
Über "Dies Irae"
Dies Irae
Über "Liebe"
Über "Kain"

Über "Dies Irae"

Aus „Der Dramatiker Anton Wildgans“ von Heinz Gerstinger

5. Kapitel

 

 

DU KLAR GEWORDNE WIRRNIS UNSRER LUST (Wildgans und das Generationsproblem)

 

 

 

Am 5. Juni 1913 wurde Wildgans sein erster Sohn, Friedrich, geboren. Am 10. November des gleichen Jahres schreibt er das Gedicht „Im Anschaun meines Kindes", das die ganze Problematik, mit der er sich als junger Vater konfrontiert sah, poetisch anschaulich macht: Noch weiß er nicht, welches Erbe in dem Knaben vorherrschend sein wird, das der Mutter, das des Vaters oder das frü­herer Ahnen. Nur so viel steht fest: nicht nur das Gute in uns lebt in den Kindern weiter, ebenso das Böse, auch wenn wir es verdrängt haben. Vielleicht wird dieser Sohn einmal als mächtiger Feind seiner Eltern erstehen, viel­leicht aber auch als Garant des Friedens zwischen beiden.

 

Aus der „Wirrnis der Lust", die in den „Sonetten an Ead" noch ein Rätsel schien, wächst das neue Leben, gibt der Wirrnis ihren Sinn. Wesentlich aber ist die Erkennt­nis: „Wir wollten dich und sind nicht schuldbewußt." „Auch wenn du uns Leid bringst, werden wir es ertra­gen." Das bedeutet aber folgerichtig, auch wenn es der Dichter nicht ausspricht, ein Schuldbekenntnis für die Eltern ungewollter Kinder. Für sie wird das „Fleisch ge-wordne Fieber ihrer Lust" zum Fluch. Früh schon und erst recht nach der Geburt des ersten Kindes stand Wild­gans im Bann dieses Problems, das im Drama „Dies irae" zum Hauptmotiv werden sollte.

Die persönliche Problematik ist aber wahrscheinlich nur die eine Komponente, die zu diesem dramatischen Resultat geführt hat. Der Generationskonflikt als litera­risches Motiv war eine Zeiterscheinung. Der Stoff lag gleichsam „in der Luft", wenn wir dem Dichter auch glau­ben wollen, daß er durch kein Vorbild beeinflußt war.

Aber auch Hauptmanns „Michael Kramer", Wedekinds „Frühlings Erwachen", Hasenclevers „Sohn" oder Bronnens „Vatermord" sind nicht als Nachahmungen, sondern unabhängig voneinander entstanden. Der Stoff war eben ein wahres Produkt seiner Zeit, einer Zeit der Wende, in der die junge Generation nicht nur auf Grund biolo­gischer Gesetzmäßigkeiten, sondern auch und vor allem auf Grund gewaltiger historischer und sozialer Verände­rungen gegen die ältere aufbegehrte. Es ist zweifellos auch nicht zufällig, daß dieses bei den Expressionisten besonders beliebte Thema auch Wildgans zu seinem „ex­pressionistischesten" Drama angeregt hat. Er selbst fand seine Dichtung zwar niemals expressionistisch im Sinne der Zeit, wie er ja überhaupt allem Modischen ablehnend gegenüberstand. Für ihn war Expressionismus „immer in ekstatischen Augenblicken der Dichtung vorhanden".

Das Besondere an seinem Generationsdrama ist das Problem des ungewollten Kindes. Daß es allerdings nicht die ursprüngliche Idee war, beweisen die Vorstufen zu „Dies irae", wenn wir verschiedene literarische Versuche über das Vater-Kind-Problem so nennen dürfen. Die Tra­gik des Vaters wollte er zuerst in einem Roman mit dem Titel „Das Tagebuch des Vaters" darstellen. 1904 notiert er zwei Varianten des Themas: Einmal lehnt der Sohn das Erbe ab, einmal unterliegt er der Tradition und opfert seine eigene Bestimmung. Schon drei Jahre früher, 1901, hatte er aber ein Drama entworfen, das zwar sehr stark von Vorbildern beeinflußt war, vor allem von Haupt­manns „Michael Kramer" (geschrieben 1900) und Ibsens „Gespenster", aber ein Motiv einbringt, das ihn seither besonders beschäftigen sollte: der Haß des Vaters gegen das mütterliche Erbe im Wesen des Sohnes. Hier mag, wenn auch stark verfremdet, persönliches Erleben Pate gestanden sein.

Der Entwurf von 1901 ist der Entwurf zu einer Künst­lertragödie. Vater und Sohn sind Maler, der Vater unter­hält eine Schule, wo er ganz im traditionellen Geist lehrt, während sich der Sohn der neuen Richtung, der „Seces-sion", verschrieben hat. Bei der großen Auseinanderset­zung erfährt der Vater, daß die Mutter mit dem Sohn heimlich im Bunde ist, was zu schweren Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten führt.

Dieses Motiv vom Haß der Eltern gegen jenen Teil in ihrem Kind, der vom anderen Partner herrührt, wird zum Selbsthaß im Kind, das sich in einer solchen Ehe, wie der Held in Strindbergs Novelle „Asra", „wie ein schlecht gearbeitetes Kompensationspendel" fühlt. Aus dem Jahre 1909 ist ein Entwurf erhalten, der bereits die wesentlichen Züge von „Dies irae" enthält. Wildgans schreibt dort: „Die Tragödie des Vaters zu schreiben, der in seinem Sohn das direkte Gegenteil von sich selbst aufwachsen sieht, dieses Fremde in ihm zu hassen beginnt, dessen Provenienz aus dem Charakter der Mutter stammend er­kennt und auf diesem Umweg zu der Entdeckung kommt, daß er die Mutter, seine Frau, niemals mit innerlicher Achtung geliebt haben kann. Dabei sind die dem Vater verhaßten Züge des Sohnes nicht objektiv schlecht, son­dern eigentlich nur als Zeichen eines ganz andersartigen Charakters Negationen der väterlichen Gesinnung und Weltanschauung. Auch der Vater ist nicht als ein Eng­herziger gedacht, sondern nur als eine stark individuelle Persönlichkeit. Als solche befangen in seinen subjektiven Urteilen, nicht Vorurteilen im vulgären Sinne. Z. B.: Der Vater, humanistisch ideell gebildet, schätzt die ausgespro­chen praktisch-materielle Veranlagung seines Sohnes ge­ring. Aus solchen gegenteiligen Dispositionen ergeben sich die Konflikte in der Erziehung und bei der Berufswahl usw., bis sie endlich zur Krise führen, nach welcher der Vater vereinsamt ist und sein metaphysisches Bedürfnis nach einem Weiterleben durch soziale Geistesarbeit zu befriedigen sucht."

Auch der Tragödienentwurf mit dem Titel „Lydias Weinberg" behandelt das Leid eines Kindes durch den Haß der Eltern, doch Ehebruch- und Inzestmotive erin­nern weit stärker an das Schauerstück „Evelin und der Krüppel" (beide Entwürfe stammen aus den Jahren 1911 und 1912) als an die Vater-Sohn-Varianten, die endlich zu „Dies irae" führen. „Vater und Sohn" ist auch der Titel eines Fragmentes aus dem Jahre 1913 — hier die Liebe des Sohnes zur weichherzigen, musischen Mutter, während er zum Vater keinen Zugang findet. Dieser konnte sein Ideal nicht verwirklichen, nun erwartet er es von seinem Sohn. Doch der will anderes. Deutliche per­sönliche Anspielungen des Dichters darf man aus folgen­der Textstelle heraushören: „Von meinem Vater habe ich — das glaube ich wohl — die Ehrlichkeit des Gefühls, das Klare, Bewußte, die Lebenssicherheit — aber von ihr habe ich mehr, von ihr habe ich die Liebe in mir für alles, was lebt, und die Freude und den Blick für die heimliche Schönheit des Leidens — in aller Kreatur."

Im September 1916, also wieder mitten im Krieg, ent­scheidet er sich für die Arbeit an der Tragödie „Dies irae" und läßt das Fragment „Herr ölwein" liegen; Im Oktober beginnt er zu schreiben, im Mai 1918 schließt er ab. Den Widerspruch zwischen seiner dichterischen Arbeit und der Furchtbarkeit der Zeit erkennt er selbst, wenn er im Jänner 1918 an Karl Wollf in Dresden schreibt: „Man lebt in diesem Kriege von heute auf morgen, immer nur gewissermaßen vorläufig, und es gehört eigentlich viel Grausamkeit dazu, an den Dingen dieser Zeit nicht teilzunehmen, selbst um eines Werkes willen. Diese Grau­samkeit bringt man nicht immer auf. Der Frühling macht egozentrischer, macht vitaler, er macht schwächer gegen die Verlockungen eigentlich sträflicher Idylle. Vielleicht macht Gott ein Ende indessen." Aber das ist nur eine Art Entschuldigung vor sich selbst, eine Schlußformel in einem Brief, in dem es ihm vor allem um seine Arbeit an „Dies irae" geht. Dessen Problem ist, kurz gefaßt, das folgende: „Mann und Weib sind für die Wahl, die sie be­züglich einander getroffen haben, dem Kinde verantwort­lich." Und weiter heißt es: „Das Schicksal in diesem Drama ist: Der Mann (Vater) gelangt über die Erkenntnis des Sohnes zur Erkenntnis seines Weibes. Was er am Sohne hassen lernte, erkennt er als die Mitgift der Mut­ter, und so erkennt er weiter, daß er die Ehe nicht aus dem Willen zu dieser Frau, sondern aus dem zufälli­gen Wunsch nach irgendeiner Frau geschlossen hat. — Ein ähnlicher Prozeß, wenn auch weiblich dumpfer, spielt sich in der Gattin ab. Zwischen dieser Zange wird das Leben des Sohnes, sein Wille zum Leben, zermalmt, er geht an dem ,Leichtsinn' der Eltern zugrunde."

Und ein Jahr vorher bekennt Wildgans in einem Brief an seine Frau: „Es steckt viel von eigenem Erleben und Erleiden darin, insbesondere die Figuren des Rabanser und des Vaters sowie auch des Professors tragen viele meiner eigenen Züge, sind Verkörperungen von einzelnen jener mehreren Wesen, die in mir enthalten sind."

Das Problem des ungewollten Kindes erklärt er noch einmal 1920 in einem Brief an seine Frau: „Solange die Eltern einander wollen, wollen sie auch die Kinder, ob sie sie nun im einzelnen Falle beabsichtigt haben oder nicht. Dies der Sinn meiner so vielfach mißverstandenen Lehre von den ,Ungewollten'."

Es geht Wildgans somit nicht um das Problem des „ge­planten" oder nicht geplanten Kindes, das unserer Gene­ration so hart zusetzt, sondern um die entscheidende Her­kunft des Kindes aus Liebe oder aus bloßem Trieb oder, was noch ärger scheint, aus bloßem ehelichen Pflichtbe­wußtsein. Hiermit aber schließt das Hauptmotiv von „Dies irae" unmittelbar an das von „Liebe" an.

Von dieser persönlichen Verantwortung der Eltern her entsteht für Wildgans das Problem der Feindschaft zwi­schen den Generationen, nicht, wie bei den meisten seiner Zeitgenossen, aus geistesgeschichtlichen Wandlungen. In einer seiner Notizen, die den Titel „Von der Feindschaft zwischen den Generationen" trägt, erklärt er seinen Standpunkt und somit das Hauptproblem seines Dramas klarer als in den zahlreichen unmittelbar auf das Stück bezogenen Artikeln. Diese Notiz soll daher wörtlich wie­dergegeben werden:

„Die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist ebenso sel­ten wie die Liebe zwischen Mann und Weib. Die Gebär­den dieser beiden Arten von Liebe sind zwar alltäglich, aber deswegen um so verdächtiger. Vielfach herrscht ge­radezu Feindschaft zwischen Mann und Weib und Eltern und Kindern, und nur der Illusionist wird das leugnen und aus der Wirklichkeit zu lügen versuchen. Der Idealist wird diesen Sachverhalt anerkennen und nach den Mit­teln suchen, hier Besserung zu schaffen. Die beiden Phä­nomene hängen innig zusammen. Würden die Ehen aus anderen Gründen geschlossen, als sie meist geschlossen werden — d. h. aus wirtschaftlichen Interessen, aus Be­quemlichkeit, Feigheit, Phantasielosigkeit, Gedankenlo­sigkeit, Berechnung —, ginge diesem Bunde, der auch noch etwas anderes ist als die vom Staat gewünschte und begünstigte Grundlage seiner Existenz, eine genaue ge­genseitige Prüfung auf Grund beiderseitiger Mündigkeit voraus, dann würden die Eltern an ihren Kindern nicht jene Überraschungen erleben, die zu spät kommen und sie über die Unrichtigkeit ihrer gegenseitigen Wahl auf­klären könnten, wenn sie nicht zumeist zu feige und zu gedankenlos wären, um die Erfahrungen an ihren Kin­dern auf sich selbst zu beziehen und anzuwenden. Wenn sich ein Mann von Bildung seinerzeit durch Sinnlichkeit verleiten ließ, eine ordinäre Person zu ehelichen, so sollte es ihn nicht wundernehmen, wenn er die niedrigen In­stinkte der Mutter bei seinem Kinde wiederfindet, und umgekehrt, wenn eine Frau ... Sie sollten aber auch nicht ihre Kinder in der Form dafür verantwortlich machen, indem sie sie mit den Worten beschimpfen: du bist die ganze Mutter — oder: du bist der ganze Vater. Denn dafür, daß gerade dieser Mann diese Frau heiratete und umgekehrt, dafür sind nur diese beiden verantwortlich."

Mit diesen letzten Sätzen stellt sich Wildgans eindeutig auf die Seite des Kindes. Die Tragik von „Dies irae" ist auch nicht der innere Zusammenbruch des Vaters, so erschütternd er wirkt, sondern die Hilflosigkeit und Hoff­nungslosigkeit des Sohnes.

Wenn wir trotz dieser Dominanz des Verantwortungs­bewußtseins der Eltern auch von sozialen Bezügen in der Behandlung des Generationsproblems durch Wildgans sprechen können, dann sind auch diese weniger politisch als persönlich. Die soziale Struktur ist eine eng begrenzte: die private Umwelt des Dichters. Die Auseinandersetzung zwischen Akademikern und Kaufleuten, zwischen Idea­listen, die schon mehr Illusionisten zu nennen sind, und Praktikern des Lebens. Wenn wir, wie eingangs erwähnt, in Wildgans den Prototyp des österreichischen Intellek­tuellen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts erkennen wollen, dann ist gerade „Dies irae" und seine Problem­stellung für uns von größtem Interesse. Der Vater als der „Gebildete", der Akademiker, ist kein Forscher, nicht ein­mal ein Denker, seine Bildung nicht Grundlage, auf der er weiterarbeiten will, sondern Besitz, den er genießt. Es ist nicht unwesentlich, daß Marc Aurel sein Lieblings­philosoph ist, der Philosoph der Resignation, einer Antike, die ihren Glanz längst verloren hat. „Wo ist der Stern, der da durchs Dunkel führte? — Einzig und immer nur Liebe zur Weisheit."

Diese Erkenntnis des römischen Kaisers wird zum Be­kenntnis des humanistisch gebildeten Vaters. Es scheint, daß ihm die Liebe zur Weisheit wichtiger ist als die Weisheit selbst. Es ist eine platonische Liebe, denn diese Weisheit ist eine lebensferne und es mag gerade diese Lebensferne sein, um deretwillen er sie liebt.

Bezeichnend der Ausspruch des Vaters: „Sie [die Bü­cher] waren mein Leben, ehe ich das kannte, was mein Leben heißt." Das literarische Erlebnis anstelle des wirk­lichen war für Generationen des sogenannten gebildeten Standes bezeichnend. Der Gebildete, wie ihn Wildgans sieht, wie er ihn als Professor am Gymnasium in vielen Variationen selbst erlebt hat, wie er der bürgerlichen Gesellschaft als Ideal oder zumindest als Muster er­scheint, ist vor allem Ästhet, Träumer von einer versun­kenen edlen Welt, die in Wahrheit, was er aber nicht wahrhaben will, nie bestanden hat, Verächter jeder Wirk­lichkeit, schlimmeren Falls ein Poseur der großen Worte, ein Schauspieler, der sich an seinem eigenen Pathos be­rauscht und nicht merkt, wie sich die Welt um ihn völlig verändert.

Wer den Schein, an den er glaubt, zerstören will oder zerstören könnte, ist sein Feind. Vielleicht ahnt er, daß sich hinter ihm eine Wirklichkeit zusammenbraut, die ihn vernichten könnte. Deshalb hält er an seiner Welt fest und verzweifelt, da sein Sohn an ihr zu zweifeln beginnt.

Die Erziehung des Sohnes nach seinem Ebenbild, zu sei­ner Art, verteidigt er mit dem Satz: „Liebe ist Wille zum Ich." Dieses Gelehrtenideal, zu dem in den Gymnasien durch Jahrzehnte erzogen wurde, war kein österreichi­sches Phänomen, ja wahrscheinlich in Deutschland noch weit ausgeprägter, wie uns ebenfalls die Literatur (von „Traumulus" bis „Professor Unrat") beweist. Aber gerade diese Gemeinsamkeit mit dem deutschen Bildungsideal ist typisch für die Verbundenheit des durchschnittlichen österreichischen Bildungsbürgers mit deutscher Lebens­form. Der nationale Gedanke in Österreich ist nicht zu­letzt ein Produkt dieses obskuren Bildungsideals. Mit der Mutter zeigt uns Wildgans die andere Seite des Bürger­tums, dem nicht Bildung, sondern Geld der ersehnte Besitz war. Ursprünglich, in einer frühen Fassung, wurde die Mutter als ungebildet charakterisiert. Das hätte den Gegensatz zwischen den Eltern in eine andere Richtung gedrängt. In der Urfassung erklärt der Vater auf seine pathetische Art den Unterschied zwischen den Ahnen seiner Frau und den seinen, die beide das Gesicht des Sohnes prägten: „Ahnenreihen standen hinter ihr. Sein Gesicht schillerte von diesen vielen vergessenen Gesich­tern. Ich haßte sie alle, diese Gesichter. Es waren keine guten Gesichter ... Fratzen von Krämern waren darunter, feixende Visagen von Lakaien, von Trinkgeldnehmern und Prozentemachern, stumpfe Masken von Tieren, die nie ein Buch gelesen, von Wirtshausbrüdern und Tarock-spielern. Von Kreaturen, die so können, aber auch anders. Das waren seine anderen Ahnen; ich unterschied sie, denn ich kenn' auch die meinen herauf bis ins zehnte Glied. Waren auch Raubtiere unter den meinen, ... aber Löwen waren es, nicht Hyänen, Königstiger, nicht verwil­derte Hauskatzen, Streitrösser, nicht Karrengäule." Das klingt nach einer gefährlichen Einteilung in Edel- und Untermenschen.

In der endgültigen Fassung geht es um „klassische" gegen praktische Bildung. „Daß ich Leute nicht liebe, die sich im Perzentrechnen besser auskennen als in Schiller und Goethe..." läßt Wildgans Dr. Fallmer, den Vater in „Dies irae" zur Mutter sagen. Sicher spricht er sich damit selbst aus der Seele, wenn er auch den Vater zum Haupt­schuldigen werden läßt: „Schuldig von Anbeginn nur der Mann! Das Weib immer nur Werkzeug!"

Man darf aber in der Kaufmannswelt der Frau durch­aus nicht jene Wirklichkeit erkennen wollen, die der idealistische Gelehrte nicht sieht oder nicht sehen will. Auch diese Geldwelt ist eine Scheinwelt. Frau Fallmer glaubt an das Leben als großes Geschäft, der Profit wird zum Götzen, dessen Sturz in dem Augenblick unabwend­bar wird, in dem der Konkurrenzkampf der Kleinen wie der Großen als nichts anderes als ein Rückfall in den pri­mitiven Kampf um's Dasein entlarvt wird. So stehen Vater und Mutter, Bildung und Besitz, verständnislos einer neuen Generation gegenüber, die mit beiden nichts mehr anzufangen weiß, besser, die weiß, daß ein Weiter­gehen auf dem Weg der Eltern den Weg ins Chaos be­deutet.

Quod demonstratum est.

Diese neue Generation zeichnet Wildgans aber nicht in dem unglücklichen Sohn Hubert, der am Haß der Eltern zerbricht und Selbstmord begeht, sondern in der Gestalt des relegierten Studenten Rabanser, in dessen Dachbo­denzimmer Bildnisse von Rousseau, Lassalle und Schiller hängen. Auch diese Auswahl der Bilder ist bezeichnend für Wildgans und die Zeit, in der er das Stück geschrieben hat. Der Idealist Wildgans stellt dem konservativen Idea­listen Dr. Fallmer den revolutionären Idealisten Rabanser gegenüber. Damit und durch den mystifizierten Schluß verliert das Stück an Glaubwürdigkeit für unsere heutige Zeit oder wird noch ein zweites Mal zur Tragödie, da wir nunmehr wissen, daß die edlen Gedanken romantischer Revolutionäre (heute hingen in Rabansers Wohnung wahrscheinlich noch Bilder von Che Guevara und Rudi Dutschke) die Reaktion nicht ins Wanken bringen konn­ten und dies einzig dem kühlen Kalkül sehr wenig roman­tischer, aber dafür um so praktischer denkender marxisti­scher Revolutionäre möglich war. In der begrenzten Welt Wildgans' blieb der einzige Widerstand gegen die ungerechte Welt der Eltern der Aufschrei und pathetische Schuldspruch eines romantischen Studenten, begleitet von der Wunsch Vorstellung jenseitiger Bestätigung durch mystische Stimmen. Auch dieser Rabanser in der Dach­bodenwohnung ist, wie der Dichter selbst in einem Brief an Franz Löser 1920 schreibt, er selbst.

In einem frühen Exkurs schildert Wildgans Rabanser verblüffend modern: „... der durchgefallene Student, das entgleiste Genie, der ein Buch geschrieben hat wider seine Lehrer, der, an dem sich seine Lehrer rächten, indem sie ihn fallen ließen wider Recht und Gesetz; denn er weiß mehr als seine Lehrer —." Antiautoritätsglaube anno 1916! In diesen drei Gestalten, Vater, Mutter und Raban­ser, zeigt uns Wildgans seine Welt, die bürgerliche Welt zu Beginn des Jahrhunderts. Denn auch der Revolutionär ist ein Bürger, der mit den Mitteln des Idealismus eine neue Welt begründen will.

Bei der blonden Rosl, dem Dienstmädchen, das sich Hubert aus reiner Liebe hingeben will und dann unschul­dig letzter Anlaß zu seinem Selbstmord wird, da er bei ihr versagt, hat Wildgans deutlich an seine Mutter ge­dacht, zugleich ist Rosl wieder einmal sein ländliches Ideal. Natürlich ist sie blond, blondselig nennt er sie. Und Hubert schwärmt vom Hüttlein, „aus Hölzern gezim­mert ... Kleines Fenster, von Blumen umschimmert, und hinter Blumen dein liebes Gesicht!" Darüber hinaus er­innern die ersten Szenen zwischen ihr und Hubert vor allem in ihrer sprachlichen Diktion so sehr an die Gret-chenszenen Goethes, daß man sie fast epigonal nennen kann. Im Gelehrten Remigius schildert der Dichter die andere Art eines humanistischen Gelehrten, ebenso welt­fremd wie Dr. Fallmer, aber unendlich reicher, da er fähig zur Liebe und damit zur Demut ist. Seine Vermitt­lungsversuche zwischen den Eltern freilich können nicht gelingen. Noch über den Tod des Sohnes hinaus streiten die beiden, wessen Schuld dieser Tod ist.

Bis der Chorus puerorum et adolescentium deinde quasi Eumenidum die gewaltigen Schlußverse spricht: „O, die den Menschen zeugen / Nicht um des Menschen wil­len, Ihrer die Schuld!"

Obwohl sowohl die Verse selbst als auch der Übergang von der naturalistischen Prosa in die expressionistisch ge­bundene Form noch kunstvoller als in den früheren Dra­men gestaltet sind und es an berechtigtem Lob dafür nicht gefehlt hat, hat schon Wildgans selbst an ihnen gezwei­felt. Die Überhöhung eines so privaten oder besser, privat geschilderten Schicksals plötzlich im Sinne des zweiten Teiles von Goethes Faust mit Chören und Stimmen aus der Überwelt mußten die unmittelbare Wirkung der Handlung beeinträchtigen.

Am 10. August 1918 schreibt Wildgans unter anderem an Karl Wollf: „Bringt die gedankliche Ausweitung ins Zeitlich-Zeitlose des allerletzten Chorus puerorum et ado-lescentium (deinde quasi Eumenidum) nicht am Ende ein heterogenes Moment in das Problem herein? Mir ist diese letzte Konsequenz im Grund liebloser und mehr zufälliger Zeugung natürlich, notwendig und wichtig. Frage: ist sie dies auch dem Drama? Ist diese Konsequenz deutlich und fest in den Prämissen, die das Ganze bildet, verankert? Kann sie als eine unnötige Zeitgemäßheit empfunden werden? Dies mein wichtigster Zweifel! Auch der schwerst zu behebende Fehler, wenn es ein Feh­ler ist."

Nach des Dichters eigenen Worten ist „Dies irae" eine Synthese aus „Armut" und „Liebe".

Aus den Jahren 1916 bis 1918 sind fünf Handschriften und drei Maschinmanuskripte zu dem Drama vorhanden, wobei sich die früheren Fassungen in vielem von der end­gültigen unterscheiden. Nicht nur die Namen waren andere (Christian statt Hubert, Remigius statt Rabanser und Liesl statt Rosl), sondern auch sehr wesentliche Motive hat Wildgans erst später geändert. Besonders auf­fallend sind drei verschiedene Schlußfassungen. Bei der einen mißlingt Huberts Selbstmord, doch erblindet er. „Jetzt werdet ihr mich nicht mehr fragen brauchen, was ich werden will!" — sind seine letzten Worte auf der Bühne. — In einer anderen Variation ist die Szene mit Rabanser im 5. Akt durch ein Gespräch zwischen Remi-gius und dem Vater ersetzt. Anders als der Revolutionär Rabanser versteht es der gütige Freund, den Vater vom Unrecht seiner lieblosen Ehe zu überzeugen. Dieser gibt seinem Sohn die Wahl des Berufes frei, er selbst will die Familie verlassen. Aber gerade an dieser Freiheit geht der willenlos schwache Sohn zugrunde. Wie in der End­fassung kommt es nach dem Erlebnis mit Rosl zum Selbstmord. — In einer weiteren Fassung will Remigius Hubert bei sich aufnehmen. Wohl die merkwürdigste Variante trägt den Titel „Dies irae oder der Triumph der Gewöhnlichkeit", eine Tragödie oder Komödie, wie man's nimmt, in fünf Akten und einem Satyrspiel. Nur der fünfte Akt ist vorhanden und mit einem Zitat aus Hof­mannsthals „Der Tor und der Tod" überschrieben, was wohl auf die Grundidee dieser Fassung einiges Licht wirft: „Wirf dies ererbte Grau'n von dir, / Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe. / Aus des Dionysos, der Venus Sippe, / Ein großer Gott der Seele steht vor dir." In dem vorliegenden Akt zwingt der Vater, hier ein emeritierter Amtsarzt, seinen Sohn, Jus zu studieren; also deutliche persönliche Reminiszenzen des Dichters. Von Anfang an bestimmend sind die Worte Marc Aureis, die Atmosphäre einer klassischen Bildung, die, wie ein­gangs erwähnt, aber nur mehr ein Schwärmen von „edler Einfalt und stiller Größe" ist, unvereinbar mit der wirk­lichen Welt rundum, also durchwegs resignativ.

Am 25. August 1917 schreibt Wildgans an Ferdinand Gregori: „Eine Tragödie ,Dies irae' liegt in erster Nieder­schrift vollendet in meiner Lade und will ans Licht." Doch
noch mußte er sich durch den Wust an Manuskripten und Notizen durchkämpfen, bis er das (vorläufig) fertige Werk seinem Verleger schicken konnte. „Ich werde daher dies­ mal nicht mit einem so sauberen Manuskript zurückkom­men, sondern mehr mit einem Konvolut von Notizen, Entwürfen, Varianten, in denen sich außer mir nur noch der Teufel auskennen dürfte", schreibt er am 12. Novem­ber 1917 aus Mönichkirchen an seine Frau.

Aber erst Mitte Mai des nächsten Jahres schickt er ein Manuskript an seinen Verlag L. Staackmann in Leipzig, und an Karl Wollf in Dresden schreibt er noch im August 1918, daß er ihm ein Arbeitsexemplar zur Ver­fügung stelle, allerdings mit der Bitte, es niemandem zu zeigen, da er noch einige Änderungen und Verbesserun­gen vorhabe.

Die Bühnenausgabe erscheint im November 1918, kurz nach dem Umsturz, und es nimmt uns heute eigentlich wunder, wie sehr — trotz der weltumstürzenden Ereig­nisse — bedeutende Männer sich mit dem Studium des Werkes befaßt haben, in dem doch nichts vom aktuellen politischen Geschehen zu spüren war. Das erste Echo aus dem Freundeskreis war fast durchwegs positiv, ja begei­stert. Wildgans' alter Professor Jerusalem, dem er als erstem ein Exemplar geschickt hatte, antwortete bereits am 8. Dezember 1918: „Das Stück bedeutet einen gewal­tigen Schritt nach vorwärts. Eine wahrhaft erschütternde Tragödie des Sohnes und zugleich der Eltern ... Eine ein­zige Frage möchte ich doch stellen: Ist wirklich der See-lenzustand beim Zeugen von so maßgebender, von so ver­hängnisvoller Bedeutung für die Gezeugten? Aber bei Ihnen wirkt das ,Ungewollte' nicht allein. Die Erziehung erst vollendet das Unglück." (Damit widerspricht er eigentlich der Absicht des Dichters.)

Mit der Mystifikation ist er einverstanden: „Der fünfte Akt wirkt trotz der Anklänge an den Schluß von ,Faust' großartig und erschütternd." Die Mutter findet er noch schlechter weggekommen als in „Armut". Und er schließt den Brief mit einem Hinweis auf die Zeit: „Hoffentlich erbarmt sich die rauhe Welt doch bald des hungernden und frierenden Wien und die Aufführung kann statt­finden ..."

Dieser Satz eines Professors erinnert unmittelbar an die Weltferne der „Humanisten" in „Dies irae", freilich auf die gütige Art des Remigius. Fast noch begeisterter ist Hugo von Hofmannsthal. In einem Brief vom 12. Dezem­ber 1918 schreibt er u. a.: „... Ich glaube, es ist eine in seltenem Maß geglückte Arbeit, ein völlig schönes Ge­dicht ... Ganz persönlich scheint mir der Stil, dessen We­sentliches ich in einem die Mitte-halten zwischen Realis­mus und eigentlichem sogenannten Stil-drama sehe; so sind die Figuren in einer ganz unvergleichlichen Weise zwischen Individuum und einer höheren Sphäre gehalten. (Eigentlich sind, in Paranthese, die Verhältnisse, in denen die Individuen zueinander stehen, stärker individualisiert als die Figuren selber, ähnlich hierin der antiken Tra­gödie, auch dem Moliere)..." Und Hofmannsthal schließt seinen Brief mit einem besonderen Lob für die „lateini­schen" Szenen: „Wunderschön auch, für mein Gefühl, der Gebrauch, den Sie dreimal vom Latein machen — heid­nisches u. christliches Latein in eins verwebend — Horaz-Marc Aurel-katholische Liturgie — das ganze als eine Geisteswelt thronend über der Herzenswelt, die Huma­niora schwebend über den bloßen Humana ..."

Der Jugendfreund Karl Satter, den Wildgans in diesem Stück „auf Schritt und Tritt" an „zwei andere Große", an Strindberg und Goethe erinnert, empfindet auch den „un­geheuren" Schritt nach vorwärts, den „Dies irae" im Gesamtwerk des Dichters darstellt und begeistert sich besonders, „daß (während in deinen früheren Arbeiten Naturalistisches und Mystisches unvermittelt nebenein­ander stand, manchmal kollidierte, woraus sich manchmal unbeabsichtigte Mißtöne ergaben) dieses Werk gar nichts mehr mit der Naturalistik zu tun hat." (Jänner 1919)

Einschränkungen macht Joseph Marx, wenn er nach anerkennenden Zeilen (Brief vom 21. 12. 18) ein „Aber" hinzufügt, freilich, wie er schreibt, rein persönlich: „Es ist mir fast zuviel Problem und deshalb zu sehr auf einen Ton gestellt, der eben deshalb auf die Nerven gehen kann, weil er echt ist. In all dem Moll hätte ich eine Dur-Epi­sode gewünscht." Und Hermann Bahr notiert am 23. Ok­tober 1918 in sein Tagebuch, daß mit „Dies irae" vielleicht eine neue Epoche unserer Literatur beginnt; der gleiche Hermann Bahr, der wenig später jubelte: „Mein herr­lichster Tag, als ich ,Dies irae' für das Burgtheater er­warb!"

Ursprünglich sollte auch dieses Stück seine Urauffüh­rung am Volkstheater erleben, doch fehlte dem Haus der geeignete Darsteller für den Vater. Und Wildgans wollte gerade mit der Besetzung dieser Rolle kein Risiko ein­gehen. Noch während der Verhandlungen wurde er von der Direktion des Burgtheaters aufgefordert, sein neues Stück vorzulegen. Obwohl er noch am 16. Oktober 1918 an Gustav Huber schreibt: „Ich bin, wie du weißt, nicht burgtheatersüchtig", bedeutet dieses Angebot einen we­sentlichen Schritt vorwärts in seiner Karriere als Stücke­schreiber. Der Dramaturg Bahr konnte das Stück gegen die Bedenken seines Intendanten Leopold von Andrian durchsetzen. Dem Dichter versprach er eine großartige Besetzung, die alle Sorge, das Stück nicht wie seine Vor­gänger am Volkstheater herauszubringen, zerstreute: Regie — Heine, Vater — Siebert, Mutter — Bleibtreu, Rosl — Medelsky, Rabanser — Korff, Hubert — Schott, Remigius — Paulsen und ein Bühnenbild von Roller! Als das Werk am 8. Februar 1919 als „Vorstellung zum Besten des Komitees zur Förderung der öffentlichen Ausspeisung (vom Schwarz-Gelben Kreuz)" herauskam, hatte Bahr in seiner Besetzung einige Zugeständnisse an den prakti­schen Theaterbetrieb machen müssen. Statt der Bleibtreu spielte Maria Mayer die Mutter, statt Schott Emmerich Reimers den Sohn. Heine, der inzwischen Direktor des Hauses geworden war, spielte zu seiner Regie noch die Episode des Magentrost — die übrigen Episodenrollen mit Aknay (Taube), Senders (Pogatschnig), Devrient-Reinhold (Babusch) und Kosch (Dienstmädchen) besetzt. Unter den Chorsprechern findet man immerhin Namen wie Thimig und Wawra! Wegen der unsicheren Zeiten begann die Vorstellung um halb fünf und schloß vor­schriftsmäßig vor acht Uhr.

Der Beifall des Publikums, besonders von der Jugend im Stehparterre und von den Galerien, war stark, das Stück wurde innerhalb der nächsten vier Spielzeiten zwanzigmal gespielt.

Ob es im Herbst 1920, als zwei Besetzungen (Rabanser — Schott und Dienstmädchen — Schulz) geändert wurden, neu inszeniert worden ist, bleibt fraglich, der Thea­terzettel meldet lediglich: Neu einstudiert. Wildgans selbst war über die Aufführung nicht glücklich. Wenig Freude hatte er an der Darstellung Maria Mayers und völlig mißfiel ihm der letzte Akt. In einem Brief an Cle-mentine Alberdingk (1919) schreibt er: „... die ganze Auf­machung dieses Aktes hat mit meinen Intentionen nichts zu tun, ist falsch und aufgedunsen wie ein Bauch voll jämmerlicher Winde. Das Weltgericht ward mir in ein WeltgeJammer umeskamotiert. Ich habe gelitten wie nur irgend je."

Die Pressekritik war sehr unterschiedlich, ja zum Teil polar entgegengesetzt. Gerade die Form des Überganges vom Naturalismus zur Ekstase, die der Dichter in der Aufführung mißglückt fand, löste bei Max Mell Jubel aus: „... dieses Hindurcharbeiten zur Ekstase, dieser Auf­trieb von der Erdenschwere zu Erdentbundenem, diese Verklärung des Wortes zur Musik, zum Vers, dieses ler-chenhafte Aufsteigen ins Lied, ins Sonnenlicht — in die­ser Form drückt sich wunderbar der Lebensglaube unse­rer Zeit aus..." Seine ganze Kritik in der Zeitung „Republik" vom 10. Februar 1919 ist ein einziger Hymnus auf den Dichter und das Stück. Nicht unwesentlich scheint es, daß Mell in diesem Werk „ein köstliches Zeichen unseres Landes und unserer Menschenart" erkennen will, ähnlich wie Richard Smekal in den „Blättern des Burg­theaters 1919/20". Dort wird das Drama als ein Bildwerk in fünf Tafeln besprochen. Es geht „von der primären Erlebnisanschauung" aus und hat eine „lehrhaft-rhetori­sche Tendenz mit bündig zu fassender Idee. Diese Tekto­nik steht fest, anders als die Analytik Ibsens, anders als der Naturalismus Hauptmanns. Im formalen wie im gei­stigen Bewußtsein dieses Dramas steht das alpenländische Mysterienspiel, das im barocken Jesuitendrama Architek­tonik erhalten hat".

Auch Max Kalbeck (Neues Wiener Tagblatt v. 9. 2. 1919) nennt den Dichter einen Künstler, „hervorgegangen aus dem mit Musik durchtränkten Quellgrunde der Wiener­stadt und deutschösterreichischen Heimat".

Die meisten führenden Tageszeitungen bringen positive Kritiken, Felix Saiten dagegen lehnt die Aufführung ab (Fremdenblatt, 9. 2. 19): So schreibt er u. a. von einer Regung des Autors, die aus „dichterischer Begeisterung und literarischem Ehrgeiz sonderbar gemischt erscheint", und setzt fort: „Mit Ungestüm fährt er auf, um sich sehr hoch empor zu recken und stößt dabei so heftig an die, freilich recht niedrige Decke dieser gymnasialen Gedan­kenstube, daß dem Zuschauer der Schädel brummt... Er gelangt statt zur Tragik nur ins Peinliche... Über dem Drama von Wildgans ... stülpt sich nur ein Plafond, des­sen Gebälke von allerlei literarischen Erinnerungen ver­ziert ist..."

Auch an den Mängeln der Aufführung gibt er dem Autor die Schuld, wenn er schreibt: „Leider erliegen die Schauspieler dieser Sprache und deklamieren fast alle so treuherzig und so unentwegt, daß wir dieses neue Drama im ältesten Burgtheaterstil zu hören bekommen ..."

Im Gegensatz zu Wildgans hebt er die Leistung der Maria Mayer als „ganz außerordentlich" und „mit Mei­sterschaft gezeichnet" hervor. Totale Ablehnung erhielt Wildgans von der Presse der katholischen Rechten, der „Reichspost" („ein qualvoll ungesundes Stück") und dem Volksblatt („überladen mit Schwulst und Brutalität"). Zu­gleich mit der Uraufführung am Burgtheater fand in Halle die deutsche Erstaufführung statt.

Noch im gleichen Jahr kommt das Werk in Dresden in der Regie von Berthold Viertel und mit besonders großem Erfolg in München heraus, wo Wildgans selbst inszenierte.

Drei Jahre später wird er bei der Grazer Erstauffüh­rung des Stückes vom Publikum enthusiastisch gefeiert.

Der Versuch einer Neuinszenierung am Burgtheater 1930 mit Ewald Baiser als Vater und Georg Terramare als Regisseur mißlingt. Erst nach dem Tode des Dichters kann man das Stück in Wien wiedersehen, 1933, aller­dings an keinem der führenden Theater, sondern als Schüleraufführung des Reinhardtseminars im Schönbrun-ner Schloßtheater. Das Publikum war begeistert und die Presse voll Lob: „Es wirkte alles zusammen, daß es keine Schülervorstellung, sondern eine richtige Wildgansfeier wurde, die vom Publikum mit stürmischem Beifall auf­genommen wurde", schrieb das „Neue Wiener Journal" am 18. März 1933. Initiator der Aufführung war der da­malige Schauspielschüler Hans Georg Marek.

Im Schönbrunner Schloßtheater gab es auch während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, in der dieses Stück besonders verpönt war, wenigstens eine Auf­führung des vierten Aktes bei einer Veranstaltung der Wildgans-Gesellschaft mit Aglaja Schmid und Erich Wil­helm Bröder.

Erst 1946 kommt es wieder zu Aufführungen des Stük-kes; auch diese der Initiative Hans Georg Mareks zu dan­ken. Wie die früheren Stücke Wildgans' inszeniert er auch „Dies irae" in seinen Zeitspielen, aber ebenso für eine Sondervorstellung im Wiener Künstlertheater (veran­staltet vom Kulturreferat der Polizei aus Anlaß von Wild­gans' 14. Todestag mit drei prominenten Gästen: Kam­mersänger Alfred Jerger von der Staatsoper als Vater, Ferdinand Onno vom Burgtheater als Remigius und die Tänzerin Hanna Berger als Taube). Die eindrucksvolle Vorstellung fand beim Publikum positiven Widerhall.

Von der Presse berichtete nur die „Österreichische Zei­tung" (10. 5. 46) über die Aufführung. Otto Hörn stellt dort fest, daß das Stück „trotz dem zeitlichen Abstand" und trotz der „klassizistischen Form an Lebendigkeit nichts verloren hat..." Mehr nach Höflichkeit und Pietät klingt allerdings die weitere Feststellung, daß trotz der altertümlichen Wirkung der gebundenen Sprache der Dichter seinen Personen Gegenwartsnähe verliehen habe. Es bleibt unergründlich, weshalb kein österreichisches Theater von Format 1946 anläßlich der 950-Jahr-Feier Österreichs, bei der man fast von allen namhaften Dich­tern des Landes Werke spielte, ein Werk Wildgans' her­ausbrachte. Um so verdienstvoller waren die Leistungen Hans Georg Mareks. 1951 kam das Stück am Salzburger Landestheater her­aus, welches damit auch in Wien in den Kammerspielen
gastierte.

Während die Inszenierung Richard Tomasellis und die Bühnenbilder Heinz Bruno Gallees fast durchwegs gelobt wurden und auch die Leistung der Schauspieler, vor allem Robert Grafs als Hubert, Ilde Overhoffs als Mutter und Margit Friedrichs als Taube, sehr positiv aufgenom­men wurden, bestand dem Stück gegenüber Skepsis. Nachdem unmittelbar nach dem Krieg die Stücke Wild­gans' zwar nur wenig gespielt, aber noch viel gelobt wor­den waren, da man einen in der Nazizeit fast totgeschwie­genen österreichischen Autor schon aus Pietät nicht nega­tiv kritisieren wollte, beginnt jetzt, zehn Jahre später, die Skepsis einer neuen Generation an dem einst hochgelob­ten Werk und seinem zu Lebzeiten schon klassischen Dich­ter Ausdruck zu finden. Besonders die lyrische Form hält man als „heute überwunden, wenn auch der in klare Sprache gefaßte Adel humaner Gesinnung" ergreift (Weltpresse v. 5. 6. 51).

In der „Arbeiter-Zeitung", die bisher Wildgans' Werk besonders hochgeschätzt hat, bezeichnet jetzt Fritz Wai­den das Stück als ein „an sich sprödes, wenig lebendiges, akademisches Stück". Auch die „Union" (14. 6. 51) findet einige Stellen „akademisch trocken" oder „durch die ver­strichene Zeit überholt", bedenklicher und weniger ver­bindlich erscheint ihr Hauptkriterium: „Was uns als indi­viduelles Schicksal packt, vermag uns von seiner Allge­meingültigkeit nicht zu überzeugen." Ein solches Urteil betrifft vor allem den überhöhten fünften Akt, der — hat er nicht die Kraft, die Allgemeingültigkeit der individuel­len Handlung darzustellen — zwecklos wird. Tatsächlich scheint dies eine Erkenntnis, auf Grund derer die weni­gen künftigen Regisseure der Wildgans'schen Stücke die Schlußapotheosen gänzlich strichen oder zumindest sehr reduzierten. Doch erwies es sich, daß gerade durch diese Beschränkung, durch die Konzentration auf die indivi­duellen Schicksale diese sehr wohl Allgemeingültigkeit erlangten.

Dies bewies acht Jahre nach dem Salzburger Gast­spiel Walter Davys Inszenierung für das Volkstheater in den Außenbezirken (mit Viktor Gschmeidler, Marianne Gerzner, Kurt Mejstrik, Lotte Ledl, Emil Feld-mar, Kurt Sowinetz, Maria Gabler u. a.). Hier war die hörbare Mystik des letzten Aktes völlig eliminiert, das Stück endete mit den angstvollen Worten des Vaters: „Ich höre Posaunen." Die Apotheose ereignete sich in der Phantasie der Zuschauer. Daß diese Zuschauer, bei den Außenbezirksvorstellungen keine Kultursnobs, sondern ein ideales Publikum im Sinne Goethes, unvoreingenom­men und dankbar, das Stück „andächtig" aufnahmen und der Applaus „über alles Erwarten heftig" war, berichte­ten alle Zeitungen. Aber auch die Pressestimmen selbst waren durchwegs sehr positiv. Die „Arbeiter-Zeitung" (5. 2. 59) bestätigt, daß gerade durch das Weglassen des „überzeitlichen" Schlusses die Zeitlosigkeit des Werkes spürbar wurde. „Davy schält das Zeitlose an diesem Pu­bertätsdrama heraus", heißt es dort, „indem er das auf­dringliche Gleichnis zurückdrängt, und dem jungen Hu­bert ... sein individuelles Schicksal läßt."

Im „Neuen Kurier" spricht Liselotte Espenhahn von einem Problem, dessen Fragestellung sich im Laufe der Jahrtausende nur unwesentlich verschoben hat, und kommt zu dem Schluß, daß „von zeitgebundenen Äußer­lichkeiten — vor allem in der Dekoration — befreit, das Stück seine Allgemeingültigkeit offenbart".

Rudolf Holzer lobt die Aufführung in der „Wiener Zei­tung" (5. 2. 59) besonders und findet mit Recht „Dies irae" als Anton Wildgans' unerbittlichste Dramendichtung. Und er, der Zeitgenosse des Dichters, folgert richtig: „Sie (die Tragödie) spricht sein Todesurteil über seine Gene­ration, der er absagt und sich von ihr löst."

Die interessanteste Darstellung war zweifellos die von Kurt Sowinetz' Rabanser. Gerade seine Umzeichnung der Figur dem Original gegenüber findet Liselotte Espen­hahn mit Recht als zeitgemäß richtig. „Er bringt", schreibt sie, „überraschend wenig Bitteres und Revolutionäres: Traurig, müde und wissend verkörpert er jedoch den Rabanser unserer Zeit..." Auch andere Kritiker erken­nen, und nicht nur in bezug auf die Darstellung des Rabanser, starke Beziehungen des Stückes zur unmittelbaren Gegenwart. Und dies in merkwürdigem Gegensatz zu den Besprechungen von „Armut" und „In Ewigkeit Amen" wenige Jahre später. Aber zwanzig Jahre später, als Irimbert Ganser im kleinen Theater am Belvedere das Stück neu inszeniert, fallen die Besprechungen bereits anders aus: da ist von einem „verstaubten Eltern-Sohn-Drama" die Rede, von einer „subjektiven Realität, die mit der objektiven Wirklichkeit wenig oder gar nichts zu tun hat", nur die „Kronen Zeitung" nennt es ein „noch immer aktuelles Stück."

Paul Blaha (Kurier) und Jean Egon Kieffer (Wiener Zeitung) finden zwar auch das Stück in mancher Bezie­hung veraltet, anerkennen aber nach wie vor die Bedeu­tung der Dichtung. „In Ehren ergraut" betitelt Blaha seinen Bericht, hält die expressionistische Sprache für kaum noch erträglich und die Menschen des Stückes für Kunstmenschen. Aber er schließt seine Kritik des Stük-kes mit einem Lob: „Nicht etwa, daß Wildgans überholt wäre. Das dramatische Gedicht ist zeitlos. Zum Lesen. Für stille, gebildete Stunden..."

Kieffer findet das „Veraltete" mehr im Inhalt. Die Konfrontation eines bildungshungrigen Proletariats mit einem saturierten und privilegierten Großbürgertum ist seiner Meinung nach ebenso von gestern wie die tenden­ziös zur Schau getragene Gebildetenüberheblichkeit des Vaters der aus kommerziellen Kreisen stammenden Mut­ter gegenüber.

Aber im Grunde sind dies doch nur Schattierungen eines zeitlos gültigen Gemäldes. Der Geschlechterhaß als Folge des ernüchternden Erwachens in konventioneller Ehe und dessen unheilvolle Auswirkung auf das unge­wollte Kind sind heute von gleicher Problematik wie vor sechzig Jahren. Ja, als tragischer Protest einer hoffnungs­vollen Jugend gegen die Fehler der Eltern scheint „Dies irae" wie für unsere Zeit geschrieben, die vergebliche Revolution von 1968 fast vorausahnend. Der müde Hubert und der radikale Rabanser verkörpern auch die Jugend unserer Gegenwart, die zwischen völliger Resignation und utopischem Sozialismus seelisch heimatlos gewor­den ist.

Und da dieses Generationsproblem auch zur Entste­hungszeit des Stückes über das private Schicksal hinaus ein höchst brennendes war, haben jene letzten Endes unrecht, die Wildgans' Arbeit als die Arbeit eines Außen­seiters in schwerer Zeit betrachten wollen. Man kann den Dichter verstehen, wenn er am 18. Oktober 1917, mitten in der Arbeit an „Dies irae", an Karl von Lustig-Prean aus Mönichkirchen schreibt: „... Du bist Zyniker genug, um zu verstehen, daß ich diese Arbeit eigentlich für wich­tiger halte als die Tätigkeit eines Landsturmmannes ohne Waffe, der, wie ich, zu gar nichts Praktischem zu ver­wenden ist..."

Jahre später faßte er in einem „Nachwort als Vorrede", das einer Ausgabe seiner bürgerlichen Dramen vorange­stellt werden sollte, Sinn und Aufgabe seiner Stücke noch einmal zusammen. Bürgerlich nennt er diese Tragödien, weil ihre Problematik den bürgerlichen Lebensbereichen entnommen ist, Tragödien, weil in jedem von ihnen Men­schen an den Schranken eben dieses Bereiches zerbrechen. Wesentlich ist der Schluß dieses Nachwortes, in dem der Dichter klar und deutlich den Zeitbezug seiner Stücke darstellt, zugleich aber sein innerstes soziales Anliegen, seine Auffassung von der Freiheit des Menschen enthüllt. Dort schreibt er:

„... Alle diese drei Dramen pochen mit unerschrockener Faust an die Tore einer neuen Zeit, die der Umsturz nach dem Kriege mit einem starken Griffe weit aufgerissen hat, ob er sie nun offenzuhalten vermögen wird oder nicht. In diesem Sinne sind sie längst vor der Revolution revolutionär gewesen, wenn auch nicht von jener lärmen­den Radaumacherart, die neuerdings ... ausgeschrien und gemanagt wird. Sie sind revolutionär nicht so sehr durch Forderungen, die erhoben werden, sondern durch die sti­lisierte Wiedergabe der Zustände, aus denen ihre Kon­flikte ... erwachsen..." Und wenn er im folgenden ge­rade „Liebe" bei Erkenntnis all seiner Fehler und Schwä­chen ein menschliches Dokument seiner Zeit nennt, so gilt dies für alle drei Stücke. Sind sie doch, um Wildgans weiter zu zitieren, „vielleicht von evolutionierender Be­deutung für jene künftig-gewisse Zeit..., in der nach allen politischen, sozialen, wirtschaftlichen Revolutionen und nach Erringung aller kulturgetragenen Freiheiten die Revolution des Menschen einsetzen wird, mit der Auflehnung gegen die Unfreiheit dessen, was bis dahin noch Natur in ihnen geblieben sein wird. Erst dann wird Zivilisation zur Kultur geworden sein.

Denn Kultur ist höchstmögliche Herrschaft der Natur auf dem Umwege über die Zivilisation.

Wo Zivilisation aufhört, gegen die Natur zu sein, be­ginnt Kultur. Alle bisherigen Revolutionen sind darauf ausgegangen, aus Bürgern verschiedener Berechtigungen Bürger gleicher Berechtigungen zu machen. Wenn dieses Ziel endlich vollständig erreicht sein wird, wird das Zeit­alter jener Revolutionen kommen, die aus Bürgern glei­chen Rechtes Menschen verschiedenen Rechtes machen werden, respektive Menschen gleichen Rechtes verschie­den sein dürfen."