Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe

Aus „Musik der Kindheit“ von Anton Wildgans

 

Bäckerstraße Tanzstunde und erste Liebe

 

Als ich neun Jahre alt geworden, fanden meine Eltern, daß die Verabreichung von Kopfstücken, die Schmälerung der Weihnachts- und Geburtstagsfreuden sowie der strafweise Entzug des geliebten Abzugbieres allein nicht mehr hinreichten, um aus mir einen Menschen zu machen, sondern daß es zu diesem Ende höchste Zeit sei, mich eine Tanzschule besuchen zu lassen. Was das Abzugbier anbelangt, das im Nebenhause bei einem kleinen Beiselwirt namens Silveri geholt wurde, so darf man sich natürlich nicht vorstellen, daß ich in meinem Elternhause zum Alkoholiker erzogen wurde. Sondern von dem Seidel, das die Großmama zu fünf Deka Schinken und einer Kaisersemmel alle Abende ihres Lebens trank, pflegte ich ein paar Fingerhütevoll mit möglichst viel Schaum in ein kleinwinziges rotes Krügelgläschen geschüttet zu erhalten und, da ich doch meist verkühlt war und Kaltes nicht trinken durfte, so wurde mir das Bier auf dem weißen schwedischen Ofen des Wohnzimmers so lange vorgewärmt, bis der Schaum vergangen und daraus ein Getränk geworden war, das jeden anderen zum Erbrechen gereizt hätte. Mir aber bedeutete Abzugbier selbst in diesem Zustande Nektar und sein Entzug auf drei, acht oder vierzehn Tage eine Züchtigung, die empfindlicher war als Erbsenknien und die Schläge, die ich bisweilen mit dem Bambusstiel des Flederwisches bekam. Aus solch peinlichen Prozeduren möchte der geneigte Leser wohl schließen, daß ich ein recht verkommenes und abgefeimtes Bürschchen gewesen! Ich will das dahingestellt sein lassen, gestehe aber ohne weiteres zu, daß ich ein landläufiges Kind ganz gewiß nicht war. Dazu beobachtete ich zu scharf und sah viel zu wachsam hinter den äußeren Schein so mancher Dinge. Und was das Lügen anbelangt, so bediente ich mich seiner nicht nur aus Notwehr und dort, wo mir ein freimütiges Geständnis ohnehin nicht gelohnt worden wäre, sondern ich betrieb es mit einer geradezu schöpferischen Leidenschaft. Bereitete es mir doch ein aus Neugier und Enthüllungsfurcht gemischtes, prickelndes Vergnügen, die Erwachsenen am Narrenseile meiner Phantasie mitunter recht lange und erfolgreich hinter mir herzuziehen. Doch davon vielleicht ein andermal. Jedenfalls war es bei so verderbten Anlagen wirklich die höchste Zeit, daß ich – tanzen lernte.

Das Institut, das meine Eltern für mich in Aussicht genommen hatten, war wohl das bürgerlich fashionabelste des damaligen Wien: nämlich jenes der Madame Erombe in der Bäckerstraße. Was man mir aber zum Vorgeschmacke davon erzählte, erfüllte mich mehr mit Angst und Widerwillen als mit Vorfreude. Da würde ich also – so bedeutete man mir – endlich lernen, mich dem Stande meiner Eltern gemäß zu benehmen. Kinder nur aus den besten Häusern würden meine Mitzöglinge sein und ihnen würde ich die seinen Manieren abzugucken haben. Um mir das entsprechende Auftreten zu erleichtern, würde ich ferner einen neuen blauen Matrosenanzug bekommen, den ich aber nur zur Tanzstunde und ansonsten höchstens bei ganz besonderen Anlässen tragen dürfen würde. Sellte ich indessen die Ruchlosigkeit besitzen, dieses ebenso kostspielige als von mir (bei Gott!) unverdiente Kleidungsstück anzutrenzen oder gar zu durchlöchern, so würde dies – im Zusammenhalte mit meinen übrigen Charaktereigenschaften! – den Beweis dafür erbringen, daß ich zum Mitgliede der menschlichen Gesellschaft nicht tauge, und man würde mich anstatt ins Gymnasium zu einem Schuster in die Lehre geben usf. mit Grazie in infinitum. Das Tanzvergnügen hub also gut an! Indessen, arme, gute Eltern! Um die Ausgaben für meine Menschwerdung in ihrem knappen Budget unterbringen zu können, hatten sie wohl auf manches eigene Vergnügen und Bedürfnis verzichten müssen und in der Angst durch mich um die Früchte ihrer Opfer gebracht zu werden, übertrieben sie meine Niedertracht. Dazu kam noch anderes! Mein Vater entstammte einer alten Wiener Beamtenfamilie, die sich aus schlichten gewerblichen Anfängen durch mehrere Geschlechter zu geachteten Stellungen im Dienste ihrer Kaiser emporgearbeitet hatte. Schüler der berühmten österreichischen Rechtslehrergeneration um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, war er selbst ein Verwaltungsjurist von Rang und konnte sich seinen Sohn nicht anders denn als Fortsetzer dieser ehrwürdigen Tradition denken. Meine Stiefmutter hingegen als die Tochter eines Stabsarztes, der noch die Feldzüge unter Radetzky mitgemacht hatte, war bei Anton Door am alten Wiener Konservatorium im Klavierspiel ausgebildet worden und hatte – um das Maß ihres Bildungsstolzes vollzumachen – in jungen Jahren Schillers Abhandlung »Über Anmuth und Würde«in tadelloses Französisch übersetzt. Beide Eltern aber bekannten sich als begeisterte Wagnerianer und gehörten dem Kreise an, der das Genie Anton Bruckners und späterhin auch Hugo Wolfs früher als andere erkannte und förderte. Nichts war natürlicher, als daß sie auch mich zu ihren gesellschaftlichen und künstlerischen Idealen empor zuzüchten bestrebt waren. Ich aber scheine diesem gewiß nicht unedlen Ehrgeize die kalte Teufelsfaust eines aufreizend plebejischen und bildungsfeindlichen Gehabens entgegengehalten zu haben und der wohlgemeinte Eifer, mich durch Betonung meiner Minderwertigkeit das Höhere erstreben zu lehren, machte mich nur umso verstockter. Denn wenn ich jemals den Ehrgeiz besessen haben sollte, mich den feineren und besseren Kreisen anzugleichen, so war er mir durch diese elterliche Methode völlig ausgetrieben worden und die Drohung, mich allenfalls das biedere Handwerk eines Schusters erlernen zu lassen, schien mir gar nicht so schrecklich; ging ich doch mit dem Sohne eines solchen in die Volksschule und er hatte immer beiweitem schmackhaftere Frühstücksbrote zu verzehren als ich, der Beamtenssohn, der meist nur einen trockenen Patentwecken mitbekam. Was aber meine Manieren betraf, so hatten sie für meinen bisherigen geselligen Verkehr noch immer vollauf genügt: die jungen böhmischen Dienstmädchen, denen ich zumeist überlassen war, pflegten sogar mit einer gewissen Hochachtung auf mich herunterzusehen, da ich ihnen immer gerne behilflich war, ihre Liebesbriefe zu stilisieren, und Herr Sakrassky, der Hausmeister, der aber im Hauptberufe Polizeimann war, hatte bisher noch nie an mir etwas auszusetzen gehabt und dies mochte bei solch einer gefürchteten Instanz für Ordnung und Sitte doch wohl etwas heißen! Aber kam ich denn mit Herrn Sakrassky überhaupt in nähere Berührung? Gewiß tat ich dieses und zwar ganz gewaltig. Denn sooft meine ahnungslosen Eltern abends ausgegangen waren und länger auszubleiben angekündigt hatten, wurde ich – sobald auch die Großmama wie gewöhnlich bereits um neun Uhr im Bette lag – gewissen Zaubervorstellungen be.gezogen, welche der Hausbesorger in der Küche der elterlichen Wohnung angeblich für mich veranstaltete. Da war der Polizist, die grimme und gestrenge Amtsperson, Mensch unter Menschen, saß, seine Pfeife rauchend, in Hemdärmeln und buntgestickten Pantoffeln auf dem Küchenstockerl neben dem offenen Tafelbett, machte die verblüffendsten Kartenkunststücke und Eskamotagen und roch im übrigen nach Knoblauch und Branntwein. Daß ich über all dies außer Rand und Band geriet, brauche ich nicht zu sagen und die kleine Küche, die durch ein spärliches Petroleumlicht mit Blechreflektor geheimnisvoll genug beleuchtet war, wurde für mich zum magischen Bereiche. Das Allerlustigste muß aber all jenes gewesen sein, was Herr Sakrassky und die blondegeräumige Küchenmagd miteinander in tschechischer Sprache verhandelten! Denn jene, ansonsten mürrisch und wortkarg, trat in des Polizisten bezaubernder Nähe völlig aus sich heraus und befliß sich eines ganz merkwürdigen, tumultuarischen Lachens, dessen Beweggründe meiner kindlichen Unschuld freilich völlig unerfindlich blieben. Und dann, wenn der Taumel aufs höchste gestiegen war, trat regelmäßig der für mich so schmerzliche Augenblick ein, wo ich unter dem Vorwande, daß nun bald meine Eltern nach Hause kämen, ins Bett geschickt wurde. Herr Sakrassky umarmte mich mit einer Besorgtheit um meinen Schlaf, die ich erst heute in ihrer ganzen, abgründigen Perfidie durchschaue, verwühlte vorläufig bloß meine Wangen feurig und zärtlich in seinen fuchsroten Vollbart und fand, daß ich ein allerliebster und folgsamer Bub sei. Das Mädchen aber schob mich eilfertig und, wenn ich nicht gleich gehen wollte, barsch zur Tür hinaus. Dies war die meinen guten Eltern allerdings völlig unbewußte andere Seite meiner gesellschaftlichen Erziehung und, was das Schlimmste daran war, mir gefiel sie beiweitem besser als alles, was man mir von den Vergnügungen der höheren Stände erzählt hatte. Indessen der Termin der ersten Tanzstunde rückte immer näher, der vielberufene blaue Matrosenanzug war in einem Knabenkleiderhause auf dem Laurenzerberg bereits gekauft, schlotterte, da er natürlich aufs Wachsen berechnet war, beträchtlich um meine zaundürre Gestalt und eines Tages zu Anfang Dezember – nachdem ich am Abend vorher einer zum Familienereignis ausartenden Generalreinigung unterzogen worden war – trat ich unter Bedeckung beider Elternteile, über dem Winterrock noch eingehüllt in einen rot- und schwarzkarrierten Plaid, die hochnotpeinliche Wanderung zur Tanzstunde an.

In jene Gegend der Inneren Stadt, wo die Bäckerstraße sich befindet und die, dem castrum romanum der einstigen Vindobona, dem Hohen Markte, unmittelbar benachbart, wohl zu den ältesten unserer Vaterstadt zählt, war ich bisher, wenn überhaupt, nur als ganz kleiner Knabe von den Weißgärbern her vorgedrungen, von der Josefstadt aus aber noch nicht. Bewegten sich doch meine gewöhnlichen Spaziergänge nur der Lastenstraße entlang oder durch die Parkanlagen des Rathausviertels, jenseits der Ringstraße aber höchstens bis auf den Hof oder auf die Freyung. Von diesen beiden Plätzen war mir der eine durch den Christkindlmarkt, der andere durch einen Häuserdurchgang vertraut, der mich von jeher gewaltig angezogen hatte: durch den sogenannten Bankbasar. Dort nämlich, in einem ganz kleinen Geschäftchen bei einem sehr lieben alten Fräulein pflegte die Großmama ihre wunderbar süße und knusprige Patiencebäckerei einzukaufen und neben diesem Gewölbe gab es ein anderes, welches ein Halbedelsteinhändler innehatte und das für meine an den Erzählungen aus Tausendundeinenacht entzündete Phantasie genau so aussah, als wäre es unmittelbar aus dem Märchen von Aladins Wunderlampe hierher versetzt. Und in der Tat, konnte es auch etwas Zauberhafteres geben als sein immer künstlich beleuchtetes Schaufenster? Lag da nicht ein buntfarbiger, glitzernder und funkelnder Schatz, weiß Gott welchem bösen Geiste entrissen, dem Blicke des glücklich Verweilenden bloß? Herrlichgebildete violette Drusen von Amethyst und de manthelle von Bergkristall wetteiferten mit allen Arten vielfarbigen Achatgesteins. Aus manchem unförmigen und unscheinbaren Steinstück war dessen phantastisch gemasertes Innerstes durch die Kunst des Schliffes an den Tag gebracht. In einer anderen Etage der Auslage waren viele siegellackrote Earncole, efeugrüne Malachite und purpurdunkle Granate in Ringe, Broschen, Ohrgehänge und allerhand andere Schmuckstücke gefaßt. Goldtopase leuchteten wie edlerschwerer Wein, Aquamarine und Ehrysoprase wie helle farbige Liköre, die durch die glitzernden Facetten ihrer Gläser und Gläschen schimmern. Was mich aber am meisten anzog, das waren die großen, scheinbar von allem Erdenreste befreiten Stücke des Rosenquarzes, die – obwohl man doch wußte, daß sie totes Gestein seien – so merkwürdig lebendig wirkten, als wären sie Gebilde aus Fleisch und Blut und mit einer unendlich zarten, feuchtschimmernden Haut überzogen. Es hätte mich wahrlich nicht gewundert, wenn sie sich, etwa in der Art gewisser exotischer Schnecken, unter meinen Augen zu bewegen angehoben hätten. Und zu all diesem kam noch, daß durch die schmale Glastür des Geschäftes, die innen mit einem dünnen, roten Stoffe überspannt war, immer (auch bei Tag!) ein geheimnisvoller Schimmer in das ewige Dämmerlicht des Basares herausdrang und daß durch einen seitlichen Spalt des bemeldeten Vorhanges bis weilen ein uralter Mann sichtbar wurde, der, eine Art von Uhrmacherlupe ins Auge geklemmt, stets forschend über etwas gebeugt war. Der Zauberbude, der dieses Geschäft auf ein Haar glich, fehlte also auch der Zauberer nicht und so war des Schauens und Spähens, sooft ich daran vorbeikam, kein Ende. An jenem Nachmittage aber, der dem Besuche der ersten Tanzstunde galt, ging es an all diesen nicht ganz geheueren Herrlichkeiten genau so rasch und unaufhaltsam vorüber wie an denen des Christkindlmarktes am Hof, der damals bereits aufgeschlagen war. Nur ein einmaliges flüchtiges Durchwandern dieser kerzen- und lebkuchenduftenden Weihnachtswelt ward dem inständigen Bitten und Betteln gewährt und dann wurden Vater, Mutter und Kind von den düsteren, schrittewiderhallenden Torfluren und Höfen des alten Kriegsministeriums aufgenommen, um bald darauf in das heitere und hellere Gewühle der Menschen und Wagen unter den Tuchlauben entlassen zu werden. Von da war es zum Ziele nicht mehr allzu weit und an dem Hause der Milchgasse vorüber, in dem Wolfgang Amadeus Mozart seine »Entführung aus dem Serail« geschrieben, gelangte man nun rasch über den Bauernmarkt auf den Stephansplatz und von dort, wieder durch ein paar düstere Hausdurchgänge, vor den alten Regensburgerhof am Lugeck; und hier öffnete sich denn auch zur rechten Hand ein tiefer, enger, nur von wenigen Gasflammen spärlich durchgeisterter Schacht: die Bäckerstraße.

Dies war nun eine Gegend, die wahrhaftig nichts von jenem Festlichen und Freundlichen an sich hatte, das man mit der Vorstellung von Tanz und Geselligkeit füglich verbindet. Himmelhoch, so schien es mir wenigstens, ragten uralte rußgeschwärzte Häuser zu einem schmalen Ausschnitte des Firmamentes empor, vor dessen sternenloser Dunkelheit ein rötlicher Schleier gespannt war wie unter dem Widerscheine eines fernen Brandes. Daß in einem dieser Häuser dereinst der gewaltige kaiserliche Feldobrist Wallenstein gewohnt, war mir damals ebenso wenig bewußt als so manches andere, was in späteren Jahren diese Gasse mit allen Lockungen und Verfänglichkeiten der Venus vulgivaga sehnsüchtig-abenteuerlich umwitterte. An breitgewölbten, teils edelgezierten Portalen ging es vorbei, die Einblick in tiefe mattbeleuchtete Korridore gewährten. Hinter gerafften Gardinen einzelner hoher Fenster schien freilich hier und dort Licht und Leben zu sein. Indessen kaum ein Schein und nirgends ein Laut davon drang auf die Gasse herab, niemand begegnete hier, kein Fußgänger, geschweige denn ein Wagen. Kurzum, es war ein Ort, wo die Füchse einander Gutenacht sagen, und wären die Eltern nicht gewesen, ich hätte unfehlbar Reißaus genommen. Da aber hielt der Vater plötzlich vor einem jener laternendämmerigen Torflure, ein ebensolches Treppenhaus empfing uns, breite, sachte, vornehme Steinstufen leiteten empor und bereits im ersten Stockwerke stand eine hohe, dunkle Tür offen, die Eintritt gewährte in das Tanzinstitut der Madame Crombé.

Wie ich da hineinkam, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur an ein ziemlich düsteres Vorzimmer, angefüllt mit vielen anderen Kindern, mit Eltern, Gouvernanten, Bonnen etc., und daß plötzlich ein weißbeschürztes Stubenmädchen vor mir kniete und mir beim Anziehen der Tanzschuhe behilflich war. Dabei zeigte es sich, daß einer meiner schwarzen Strümpfe ein Loch hatte. Die Mutter errötete bis an die Haarwurzeln, der Vater warf mir einen Blick zu, der mich endgültig zum Schandfleck der Familie stempelte, und mir selber wurde vor Entsetzen schwach ums Herz. Indessen, ehe ich mich noch fassen konnte, fühlte ich mich gedrängt und geschoben und befand mich im nächsten Augenblicke der Inhaberin des Institutes gegenüber.

Madame Crombé war sicherlich eine der reizendsten Damen ihres Jahrhunderts und es wäre nur recht und billig, wenn alle, die ihr im Leben nahe gestanden, ihr Andenken verehrten. Mir aber – Gott verzeih mir die Sünde! – erschien ihre Freundlichkeit wie jene der bösen Großmutter im Märchen, welche die Kinder vorerst mit allerhand guten Sachen füttert, um sie nachher abzuschlachten und aufzufressen. Madame Crombé glich natürlich nicht im geringsten einer alten, häßlichen und kleinhäuslerischen Waldhexe. Im Gegenteil! Aber gerade das erweckte das besondere Mißtrauen meiner allzu regen Phantasie. Immerhin erkerte doch eine gewaltige Nase aus dem blassen und schmalen Raubvogelgesicht der damals schon recht bejahrten Dame, ihre Haltung war steif und automatenhaft, als gestattete ihr der Mechanismus, der sie offenbar in Bewegung erhielt, nur einige wenige streng abgemessene Gebärden, und ihre Frisur hatte die nämliche leblose Ordentlichkeit wie jene der Wachsfiguren im Panoptikum. Als das Allerunheimlichste aber erschienen mir ihre winzigen Füße, die in ganz filigranen Lackschuhen staken und von unwahrscheinlich hohen Stöckeln gleichsam im permanenten Zehenstand erhalten wurden. Wäre nicht ein junger, befrackter, bildhübscher Herr, Monsieur Müller, mit blondem Kaiserbart und lebhaften Gesichtsfarben als Madame Crombés Adlatus gleichfalls anwesend gewesen, die Sache wäre schief gegangen mit mir. Denn die Angst, die ich ohnehin schon empfand, wurde noch übertroffen von einem Gefühle, das mir das Blut glühend heiß in die Wangen trieb und jedes Wort in die Kehle hinabwürgte: von namenloser, unbändiger, elementarischer und an Verzweiflung grenzender Scham!

Da stand man nämlich urplötzlich in einer Reihe mit einem Dutzend anderer Kinder inmitten eines lusterhellen, spiegelglatten Salons, an dessen Wänden ringsherum rote Sammetbänke liefen, und auf diesen, die in der peinlichsten Weise an das Wartezimmer eines Zahnarztes gemahnten, saßen nicht nur die eigenen, sondern auch alle die fremden Eltern. Der Kinderfront gegenüber ragte Monsieur Müller, der bemeldete Adlatus, kommandierte unentwegt »Erste Position!« »Zweite Position!« »Dritte Position!« und sah einem dabei mit stahlhart gewordenen Tierbändigerblicken so unerbittlich auf die Füße, daß der rechte unfehlbar das tat, was der linke hätte tun sollen, und daß dem Klavierspieler immer wieder abgeklopft werden mußte. Da wurde man denn als das räudige Schaf. als das man sich erwiesen hatte, namentlich aufgerufen und einzeln vorgenommen. Und all dies unter dem Kreuzfeuer der ehrwürdigen Lorgnons und unter dem noch viel beschämenderen Gekicher der bei weitem weniger begriffstützigen kleinen Mädchen, während Madame Crombé die schwer geschlagenen Eltern nachsichtig lächelnd damit zu trösten versuchte, daß es ein nächstes Mal schon besser gehen werde. In diesem Augenblicke tiefster Erniedrigung beschloß ich, etwas derart Ungeheuerliches zu begehen, daß es zu diesem »nächsten Male« unter gar keinen Umständen mehr kommen könne. Lieber wollte ich zu einem Schuster in die Lehre geschickt werden und, wie mir der Vater bei jeder Gelegenheit prophezeite, elendiglich auf dem Miste krepieren, lieber wollte ich in meinem ganzen Leben kein Abzugbier mehr trinken, keinen einzigen Bleisoldaten mehr und keinen Steinbaukasten bekommen, als daß ich mich jemals wieder an diesen Pranger gestellt hätte! Und dann – ist es ja doch zum nächsten und abernächsten Male gekommen und, als der Winter zum Ende neigte, war der Zauberlehrling des Herrn Sakrassky ein hoffnungsvoller Adept der Tanzkunst geworden, hopste den deutschen und schliff den französischen Walzer, ohne sich mit den Füßen zu verhaspeln, nach Noten, galoppierte die Schnellpolka, tänzelte die Française in leidlicher Haltung und wiegte sich auf das Kommando »Balancé« graziös in den Hüften. Auch mit eleganter Kniebeuge und, ohne dabei auf den Parkettboden zu plumpsen, einer Dame das Taschentuch anzuheben, hatte er gelernt und desgleichen die schwierige Kunst, sich in drei Etappen rücklings zur Türe hinauszubugsieren. Nur die mannigfachen Figuren und Kommanden der Quadrille hat er damals ebenso schwer begriffen wie im späteren Leben die Theorie vom Grenznutzen und wie die Formel für die koketten Annäherungsversuche der Asymptoten in der analytischen Geometrie. Und trotz dieser hoffnungslosen Unfähigkeit, La Poule, La Trénis und La Pastourelle auseinanderzuhalten, war das gesellschaftliche Ziel des Tanzunterrichtes erreicht und bereits im Winter darauf wurde der nunmehrige Gymnasiast eingeladen zu seinem ersten Hausball.

Ich weiß nicht, ob die gemütlichen Wiener Hausbälle die Zeitenwende des Weltkrieges überdauert haben und, wenn dies der Fall sein sollte, in welchen Kreisen und in welcher Art sie heute noch veranstaltet werden. Damals aber im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts (und wohl auch früher und später) waren sie, abgesehen von ihrem Vergnügungszwecke, auch ein starkes Bindemittel im Sinne der Zugehörigkeit zu einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise, dessen Anschauungen und Geschmack sie von Generation zu Generation weitergeben halfen. Nicht nur Ehen wurden da förmlich prädestiniert, sondern auch Karrieren begründet und dies umsomehr, je einflußreicher die Stellung der Gastgeber war. Dies barg gewiß die Gefahr der Protektion, des Nepotismus und der gesellschaftlichen Inzucht in sich. Indessen, nicht gesellschaftskritisch sondern als reines Kindheitserlebnis will ich meinen ersten Hausball im Hause eines damals hochangesehenen Kirchenrechtslehrers der Wiener Universität schildern. Ein Jahrzehnt später bin ich dann sogar sein Schüler geworden, habe ihm aber die erwiesene Gastfreundschaft nur übel gelohnt. Denn von der berühmten Bulle »Si quis suadente diabolo«, weiß ich heute nichts mehr als den Namen und auch von den komplizierten Vorgängen bei der Papstwahl habe ich keine Ahnung mehr. Und doch waren dies Prüfungsfragen, auf die der Professor größtes Gewicht legte!

 

Hausball–Kinderball von 1891! Durch ein geräumiges Vorzimmer, in dem es bereits nach frischen Blumen, zarten Parfums und seinen, warmen Speisen verheißungsvoll genug roch, betrat man den gemütlichen Ecksalon des Gelehrten. Allein die Möbel standen darin nicht so, wie sie wohl für gewöhnlich stehen mochten, sondern alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatte man an die Wände gerückt, um dem Tanzvergnügen Raum zu schaffen. Da Vater und Sohn zu den frühesten Ankömmlingen zählten, hatte der Ball noch nicht angefangen und der Klavierspieler saß noch untätig beim weit aufgemachten Pianoforte. Nun aber füllten sich rasch die Gemächer. Viele Erwachsene kamen und noch viel mehr Adoleszenten und Kinder. Schöne und würdige Frauen aller mütterlichen Alter, in Schleppkleidern und bloßer Schultern und Arme, strahlten im Schmucke der Blumen und Juwelen, wohlgestaltene Väter trugen diskrete Ordensbändchen oder goldene Kettchen mit vielen glitzernden Miniaturorden im Knopfloch ihres Fracks. Hohe akademische, bürokratische und die verschiedensten Adelstitel flogen im eleganten Ballspiel der lebhaften Konversation hin und wider. Eine Welt von Rang, Geltung und Wohlhabenheit tat sich dem Neuling mehr verwirrend als anheimelnd auf. Das also waren die Sphären, in die durch Fleiß und Wohlanständigkeit hineinzuwachsen man geboren war! Es tat wohl, den eigenen Vater in ihnen heimisch und gleichberechtigt zu sehen, aber man fühlte auch die ungeheuere Verpflichtung, ihm ja um Gottes willen keine Schande zu machen. Das beeinträchtigte zwar das eigene Vergnügen erheblich, aber es verlieh auch Wichtigkeit und Rückgrat und besonders dieses letztere hatte man notwendig – den jungen Damen zwischen acht und vierzehn Jahren gegenüber! Du lieber Himmel, wie konnten doch diese tüll- und spitzenumbauschten, Ylang-Ylang-duftenden Püppchen stolz und verächtlich blicken! Die jüngsten trugen zwar noch die Haare offen, andere aber hatten es schon zu dicken, seidenbemaschten Zöpfen gebracht und, wenn eine gar bereits die Locken aufgesteckt hatte, so war es mit ihr rein nicht mehr zum Aushalten. Und doch, welch ein Zauber, welch eine demütigende Anziehung ging trotz ihrer kalten, abweisenden und oft schmerzhaft spöttischen Blicke von diesen kleinen, vielfach französisch parlierenden Herrinnen aus! Was konnte man dieser mühelos plappernden Sprachkenntnis entgegensetzen? Selbst die gewiß nicht unbeträchtliche Mitteilung, daß alle Wörter auf -nis masculini generis seien, hätte einen bloß lächerlich gemacht! Überhaupt, nichts von allem, womit man allenfalls hätte aufwarten können, hätte vor diesen ebenso reizenden als grausamen Richterinnen stichgehalten! Alles an ihnen war allem an unsereinem überlegen: jeder Blick, jede Bewegung, die Geschmeidigkeit und Sicherheit des Ganges, die Mühelosigkeit des Gespräches, ja sogar die Reinheit des Teints! Ihnen schien eine Haut verliehen zu sein, an der Irdisches wie z. B. Tusche oder Tintenstift überhaupt nicht haftete. Blütenweiß und flaumweich, so wuchsen die rundlich-zarten Hälschen dieser süßen und höheren Wesen aus Spitzenkrausen und duftendem Seidenzeug und wiesen nirgends jene verdächtigen Schatten auf, die bei der eigenen Methode, sich den Hals zu waschen, so schwer zu vermeiden waren. Auch die Händchen der Geschöpfe sahen aus, als wären sie soeben einem sanften Bade aus Rosenwasser und Mandelmilch enttaucht, und die Nägel ihrer Fingerchen glichen gleichmäßig geformten Perlen in ihrem schimmernden Ebenmaß, während unsereiner an den seinen mitunter noch recht kräftig nagte und biß. War es da ein Wunder, wenn all diese kleinen, schon von Kindesbeinen auf den Ehemann dressierten Bürgerinnen über einen hinweg in das große solide Abenteuer mit einem jener Halbwüchsigen oder gar Erwachsenen blickten, die in ihren langen Hosen, tief ausgeschnittenen Westen oder gar in der Gloriole eines väterlichen Adelsprädikates ihnen unbesehen ebenbürtiger waren? So stand man denn, von seinem immer noch viel zu weiten, kurzhosigen Matrosenanzug umschlottert, als der verkörperte Minderwertigkeitskomplex in irgend einer Ecke des Salons, hungerte mit fieberheißen Wangen und Augen nach Erwachsenheit und Vollgültigkeit in diesem Kreise und blieb, obwohl zu ihm zugelassen, dennoch ein Abseitiger und Fremder in ihm. Da übertönten ein paar festliche Akkorde den heiteren Tumult des Stimmengewirres; das durcheinanderflutende Gedränge ordnete sich zu Paaren, die Paare schritten eine Weile zum feierlich-feurigen Rhythmus einer Polonaise im Kreise herum und dann verstummte die Musik, alles stand, ein paar Augenblicke atemloser Stille traten ein und in sie ertönte nun erst leise und wie von weit her das selige Aufschluchzen eines Walzers. Da löste sich das erste der Paare von der Kette, schwebte graziös umschlungen in die freigehaltene Mitte des Salons, tanzte einmal allein herum, die anderen schlossen an: der Ball war eröffnet!

Ich könnte die Schilderung meines ersten Hausballes mit dieser Eröffnungsszene beschließen. Denn was nun folgte, das war nicht viel anderes als die üblichen Tänze aus der Bäckerstraße, nur daß sie sich hier nicht so schulmäßig abspielten wie unter Monsieur Müllers kritischen Blicken. Aber nicht davon soll jetzt noch die Rede sein, sondern nur mehr von einem ganz anderen, das an jenem Abend als ein unendlich Zartes und Beseligendes in das Leben des einschichtigen Knaben aus der Schmidgasse trat und darin weilte bis an die äußerste Grenze der Kindheit. Ja, noch jenseits dieser, als die ersten Föhnstürme nahender Mannbarkeit den jungen Wipfel zausten und bogen, war es da als ein Nachglanz von Reinheit und Wärme. Und heute, im Nachmittage seines Lebens, weiß der Mann, – was immer er auch seither erlebt hat an wogenhintreibender Luft und hasenberuhigtem Glück – daß nichts mehr wieder so über ihn kam wie das überwältigende Gefühl jenes Abends.

Sie hieß Annie und war die jüngste der Töchter des Hauses! Kaum so alt wie der Knabe, der seinerseits wieder der jüngste unter den Tänzern des Abends gewesen sein dürfte, war auch sie noch ein Kind, aber Unschuld, Güte und Lieblichkeit strahlte erwärmend aus den Augen dieses Kindes und von seinem Scheitel wallte das blonde Gold in seidenen Wellen über die zarten und dennoch kräftigen Schultern. Wieso ich Annie erst an diesem Abende begegnete und nicht schon früher mit ihren beiden älteren Schwestern zusammen in der Tanzstunde, kann ich heute nicht mehr sagen. Auch dafür wüßte ich keine Gründe mehr, warum Annie als einziges unter den Kindern kostümiert war. Aber sie war es und wie das liebe Märchen vom Rotkäppchen schreitet ihre Gestalt durch den frühen, zarten Nebel der Erinnerung. Es ist ja möglich, daß ich sie schon vorher einmal und sogar in anderer Umgebung gesehen hatte. Dann aber nur mit jenen Augen, die eben alles flüchtig in sich aufnehmen, was sich in ihren Kristall drängt, nicht aber mit jenen, deren Blick Erlebnis bedeutet und selige Besitznahme von etwas, das man nie wieder lassen mag. Und dies Erblicken kam! Kam an jenem Abend und hat auch heute noch die Kraft, der Zeit zu gebieten, daß sie stillesteht für ein paar Atemzüge, indessen ich ein blühend Zweiglein befestige am Gnadenbilde der ersten Liebe. Tanz um Tanz war vorübergeflirrt an jenem Abende und der einschichtige Knabe hatte sich kaum beteiligt an dem Vergnügen, das ihm nur eines für andere zu sein schien und nicht für ihn. Da – es ging wohl schon gegen Mitternacht! – wurde zur Kotillonquadrille aufgerufen und alles, was männliche Beine hatte, stürzte und drängte sich in das Vorzimmer, wo ein Bedienter kleine taufrisch duftende Blumenbouquets aus einem mächtigen Korbe verteilte. Auch der Knabe hatte sich drei davon, wenn auch als Letzter, erobert und begab sich, vor Erregung und Erwartung bebend, zurück in den Saal. Da hatte die Quadrille bereits begonnen und glich mehr einem übermütigen Durcheinander als einem so streng geregelten Tanze. Wie aber waren all diese Paare und Gegenüber zusammengekommen? Hatte der Knabe versäumt, sich eine Tänzerin zu wählen? Oder war das Wahlrecht von den Damen ausgeübt worden? Er wußte es nicht, konnte es nicht fassen. Und alle Mädchen hatten ihre Blumenspenden schon erhalten und allen Tänzern schmückte bereits der bunte und glitzernde Tand der kleinen seidenen Maschen und goldpapierenen Sterne die Brust! Nun löste sich die Quadrille in die wilde Jagd eines Galopps auf, der auch die Nebenräume durchtollte, bis die Musik ihren Höhepunkt erreichte und mit einigen besonders rauschenden Akkorden abbrach. Da wurden Flügeltüren, die bisher geheimnisvoll geschlossen gewesen, geöffnet, eine Flucht neuer, noch unbetretener Gemächer tat sich auf, blumengeschmückte, silberfunkelnde und von vielen Lustern und Kerzen überstrahlte Tafeln schienen sich in die Unendlichkeit fortzusetzen und mit der ganzen feierlichen Eourtoisie jener Tage schritten die Erwachsenen durch ein Spalier von Jugend zu Tisch. Und der Knabe? Wie im Traume geschah ihm dies alles, wie im Traume zog all dies an ihm vorbei und wie im Traume verspürte er, daß es immer leerer und stiller wurde um ihn und daß er bald allein stehen werde mit seinen drei unverschenkten Blumensträußchen in der Hand. Da aber, als die Pein dieses Traumes schon fast ins Unerträgliche stieg, in diesem Augenblicke höchster Ohnmacht und Scham – löste sich eine kleine Märchengestalt aus dem letzten, verebbenden Gedränge, zwei strahlende Kinderaugen suchten mich, nahten mir rasch, sahen ermutigend lächelnd zu mir hinan und dann – da ich vor lauter Verwirrung und Dankbarkeit nichts anderes gewußt hatte, als all meine Blumenpracht dem lieben Mädchen zu geben – faßte eine kleine, heiße, etwas feuchte Kinderhand resolut nach der meinen und führte mich durch einen Nebel von Glück und Verwirrung zu Tisch.

O, es war gewiß nicht so gewesen, daß Gott einen Engel bemüht hatte, um einen allzu unbeholfenen Knaben aus einer lächerlich-demütigenden Situation zu befreien, und auch davon war bestimmt nicht die Rede, daß Annie, von irgend einer schicksalhaften Sympathie getrieben, sich meiner angenommen hatte, sondern ganz einfach: die sachlich vorherbestimmte Tischordnung hatte die beiden Jüngsten der Gesellschaft am untersten Ende einer der vielen Tafeln zusammengesetzt. Ich närrisch-überspannter Hitzkopf aber nahm dieses Selbstverständliche und gar nicht Hintergründige als ein Zeichen des Himmels und wie ein Trunkener muß ich mich damals in meiner Seligkeit betragen haben. Die Speisen, die man reichte, berührte ich kaum, obwohl ich mir von jeder die erstaunlichsten Berge herauslangte. Statt dessen brach ein solcher Strom der Rede von meinen bisher krampfhaft verschlossenen Lippen, daß allmählich auch ältere Kinder auf mich achtzuhaben begannen, und schließlich hörte mir alles zu, was am nämlichen Tische saß. Was ich da zusammendeliriert haben mag, ist mir heute völlig unbewußt, aber ich sprach und sprach und wendete keinen Blick von dem stillen, lächelnden Kindergesicht neben mir, das mich mehr forschend als verstehend ansah. Dann aber, nachdem ich mich endlich ausgetobt hatte, brach der Strom der Rede ebenso unvermittelt ab, als er mich überkommen hatte, und ich weiß von jenem Abende nichts anderes mehr, als daß ich durch eine eisigklare, schneelose Winternacht an der Seite meines Vaters über die Lastenstraße der Schmidgasse zuschritt. Da löste sich die Spannung vieler Stunden in einem Ausbruch unendlich glücklicher Tränen und der große, strenge Mann an meiner Seite, der mir nur so selten zeigen durfte, wie lieb er das Kind seiner ersten Ehe hatte, streichelte mir mit einem Lächeln, dessen gütige, fast ratlose Verschämtheit ich niemals vergessen werde, die Wange.

 

Seit jenem Abende habe ich dich geliebt, Annie, und habe diese Liebe »getragen sieben Jahr«! Bis in die Fieberphantasien der schweren Krankheit, die ich am Eingange des Jünglingsalters bestehen mußte, hat mich dein reines, liebes Bild begleitet und mein ganzes Knabenleben stand unter dem Zeichen deines Auf-Erden-Seins. Um deinetwillen trieb ich täglich stundenlang den Reisen über die Asphaltstraße hinter dem Rathaus, auf die deine Fenster sahen. Um deinetwillen ging ich die Wege in den Anlagen zu jenen Stunden, da auch du sie gingst. Um deinetwillen gehorchte ich meinen Eltern, lernte ich für die Schule, schämte ich mich meiner Sünden und Schwächen und um deinetwillen betete ich. Aber das Wunder, um das ich bat, konnte selbst Gott nicht bewirken. Denn um deinetwillen hätte ich ein Mann sein wollen, um vor dich hinzutreten und dir sagen zu dürfen wie lieb ich, dich habe. So, wie ich es tausende Male vor mich hingesagt, des Nachts vor dem Einschlafen, des Morgens nach dem Erwachen und in allen Stunden der Dämmerung, wenn die Lampen noch nicht angezündet waren an den frühen Abenden der Winter. War dies Schmerz, war's Freude? Ach, beides war's, aber mehr des Leids als der Freude! Denn mit jedem Jahre unserer Kindheit entwuchsest du mir mehr in ein Uneinholbares und Fremdes, das deinem Leibe die Süße gab und deiner Seele die Ahnung glücklichsten Weib-und Mutterseins, indessen ich – ein Schulbub blieb. Da war ich denn ausgetrieben aus dem Paradiese und lernte das bittere Jünglingslos dulden, Liebe und Luft trennen zu müssen wie ein Schmutziges und ein Reines. Und das hat wehgetan, Annie! Aber stille, stille davon! Kein Schatten trübe dein Bild! Wo immer du – wüßt ich's doch! – seist, was immer das Leben an dir getan, – blühen schon Silberfäden in deinem Haar und sind Lippen da, sie zu küssen? – so, wie ich dich liebte, da wir noch Kinder waren, steh du vor mir und weile!