Curriculum vitae 1 CURRICULUM VITAE von Anton Wildgans
(Kwassitz, am 4. Februar 1913)
Ich bin geboren am 17. April 1881 zu Wien, als Sohn des damaligen Ministerialvizesekretärs im k. k. Ackerbauministerium Doktor Friedrich Wildgans und seiner Gattin Therese, geb. Charvat. Meine Vorfahren väterlicherseits waren nachweislich bis in das 17. Jahrhundert zurück in Wien ansässig, bis zirka 1790 Bürger und Gewerbetreibende, von da ab Beamte und Juristen im Dienste des Staates.
Als ich vier Jahre alt war, starb meine Mutter an der Lungenschwindsucht. Ein Jahr später heiratete mein Vater zum zweiten Male, und ich bekam eine Stiefmutter. Von meinem Vater von jeher zum Beamten und Juristen bestimmt, machte ich den hiezu üblichen Bildungsgang durch und absolvierte vorerst im Jahre 1900 das Gymnasium bei den Piaristen in der Josefstadt. Hierauf inskribierte ich mich, dem Wunsche meines Vaters, nicht meiner Neigung folgend, an der juristischen Fakultät der Universität Wien. Dieses Studium habe ich dann nicht ohne Zwischenfälle absolviert. Da ich keine Berufung zum juristischen und insbesondere zum Beamtenberufe in mir fühlte, suchte ich nach allen möglichen Auskunftsmitteln, um dem über mich verhängten moralischen Zwange zu entkommen. Mehr als ein moralischer Zwang war es damals wohl nicht mehr. Denn mein Vater war sehr bald nach meiner Matura in eine unheilbare Gehirnkrankheit verfallen, die ihm nicht einmal die Bestimmung über seine eigene Person, geschweige denn eine Bestimmung über meine Person ermöglichte. Aber er lebte. Leicht hätte ich ihm zwar ein Umsatteln in einen anderen Beruf verheimlichen können. Aber ich konnte gerade dieses nicht. Ich betrachtete seinen zu Zeiten der Gesundheit geäußerten Willen als eine Art Vermächtnis, das ich zu erfüllen hatte, und diese selbstgewählte moralische Pflicht wollte und konnte ich einem Schwerleidenden gegenüber, der durch seine Krankheit machtlos sein mußte, nicht umgehen. So kämpfte ich fortwährend mit mir und zwang mich zu einem Studium, das weder den Neigungen meines Geistes noch dessen Anlagen entsprach und das mir anderseits auch nicht einmal in materieller Beziehung ein Äquivalent für die innere Aufopferung zu bieten vermochte.
Aber gerade das materielle Moment spielte für mich eine Hauptrolle. Ich war darauf angewiesen, möglichst bald zu verdienen. Ich hatte nach dem Tode meines Vaters keinerlei Erbschaft zu erwarten, und auch auf den Mitgenuß der Pension seiner Witwe hatte ich kein Recht, da diese nicht meine leib-
liehe Mutter war. Ich entschloß midi daher damals am Jahre 1904, noch vor dem Ableben meines Vaters, das im Jahre 1906 erfolgte, meine juristischen Studien wenigstens zu unterbrechen und mir vorerst eine unabhängige materielle Existenz zu begründen. Abenteuerliche Pläne tauchten auf, und Zufälle kamen mir, wenn auch nicht erfolgreich, zu Hilfe. Ein sehr wohlhabender Gymnasialkamerad und Freund erkrankte an einem Augenleiden, zu dessen Heilung die Ärzte weite Seereisen, besser gesagt, lange Aufenthalte in der reinen Luft des Meeres verordneten. Der Vater dieses Freundes nun gewann mich als Begleiter seines Sohnes, und so trat ich am 26. Oktober 1904 eine Reise an, die mich sieben Monate von der Heimat fernhielt und in mir den geheimen Wunsch nährte, mir in einem anderen Weltteile eine Existenz zu gründen. Da ich ein guter Geigenspieler war, knüpfte ich an diese Fertigkeit Hoffnungen, zumal eine asiatische Regierung gerade damals einige Posten an einem in ihrer Hauptstadt zu gründenden Konservatorium in der kaiserlichen Wiener Zeitung ausgeschrieben hatte. Es war meines Erinnerns Japan. Aber dahin führte uns die Reise, deren Ausdehnung ich ja nicht bestimmen konnte, nicht. Nichtsdestoweniger erhoffte ich mir von Australien, wohin wir kommen sollten, einen ähnlichen Bedarf an guten Musikern, was sich jedoch nicht bewahrheitete.
Die erwähnte Reise war für mich ungemein wichtig und lehrreich. Ich lernte Portugal, die Kanarischen Inseln und die Nordküste von Afrika ziemlich gut kennen, weilte wochenlang in Neapel und Capri und gelangte mit meinem Freunde über Ceylon, das uns einen Monat festhielt, bis nach Australien, wo wir in den meisten großen Küstenstädten längeren Aufenthalt nahmen. Von zu Hause kamen indessen traurige Berichte. Der hoffnungslose Zustand meines Vaters hatte sich zur akuten Gefährlichkeit verschlechtert. Von diesen Nachrichten an war meine Empfänglichkeit für das Neue, Fremde, Interessante der fernen Weltteile plötzlich wie zugeschlossen, und ich hatte nur
mehr den einen Wunsch, heimzukehren und meinen Vater, den ich in seinem schweren Zustande allzu leichten Herzens verlassen hatte, noch lebend anzutreffen. Das Schicksal war so gütig, mir diesen sehnlichsten Wunsch zu gewähren. Ich traf meinen Vater im Mai 1905 zwar gelähmt, aber immerhin noch lebend an, und es war mir vergönnt, ihn während der letzten Monate seines Lebens zu betreuen und durch meine Anwesenheit zu beruhigen. Er starb am 3. Jänner 1906 in meinen Armen. Seinen letzten Pulsschlag habe ich gefühlt.
So war ich denn vollkommen verwaist und auf mich angewiesen. Meiner Stiefmutter wollte ich nicht mehr als unbedingt nötig zur Last fallen. Ich setzte zwar für mich meine juristischen Studien fort, suchte aber inzwischen irgendeine Anstellung. Hier ist es an der Zeit, von meiner literarischen Neigung und Betätigung, wie die Dinge damals standen, zu sprechen. Die Liebe zur Poesie war mir schon als Kind und insbesondere dann in der Zeit des Obergymnasiums eigen. Was ich aber damals selbst zu produzieren versuchte, ging nicht viel über das Niveau hinaus, auf welchem sich die poetischen Ergüsse der meisten jungen Leute bewegen. Nur mein rezeptives Interesse unterschied sich von dem meiner Kameraden und Altersgenossen. Ich eignete mir schon damals eine verhältnismäßig allgemeine Belesenheit in Werken der verschiedensten Literaturepochen an. Wenn ich es klipp und klar sagen soll, so habe ich eigentlich seit meinem 13. Lebensjahre, seit der ersten begeisterten Bekanntschaft mit den Klassikern, nichts anderes im Kopf gehabt als Poesie. Ich liebte sie so glühend, so ausschließlich, daß ich nur in ihrer edlen Unwirklichkeit lebte, nur bejahte, was mit ihr im Zusammenhange stand, und dem Leben außer ihr keinen Wert beilegte. Diese Inbrunst trat immer mehr an die Stelle einer anderen, die mich bis zu meinem 17. Lebensjahre mächtig beherrscht hatte: die religiöse. Ohne auch nur im geringsten von Haus aus religiös erzogen zu sein und auch von der Schule zu religiösen Dingen nicht
anders als schablonenhaft angehalten, machte ich mir eine eigene mystische Gottesverehrung zurecht, die mich vor allem das Leiden genießen machte. Als Stiefkind war ich vielfach zurückgesetzt worden, an meinem kränkelnden Vater hatte ich keinen Hort. In der Schule ward ich von meinen Lehrern wegen meiner höchst einseitigen Begabung in der Richtung der humanistischen Fächer als fragwürdiges Geisteskind behandelt. So war ich, der ich außer meinem Vater und einer sieben Jahre jüngeren Halbschwester keinen Blutsverwandten besaß, ganz auf mich selbst angewiesen und litt, wie nur ein Kind mit reger Phantasie leiden kann.
Da kam mir die katholische Leidenslehre mächtig zu Hilfe und gab mir ein, mein Leiden in die masochistische Lust des Märtyrers zu verwandeln. Das Aufwachen des Geschlechtstriebes trug dazu bei, und ich wütete gegen mich in unerhörten Schmerzzufügungen, deren nähere Erörterung wohl nicht in den Rahmen dieses Berichtes gehört. Den Endpunkt dieser religiös-hysterischen Periode bildete dann eine Krankheit (Scharlach), die mich im 18. Lebensjahre für drei Monate aufs Krankenlager warf, mich bis fast an den Rand des Todes brachte, und von der genesen ich, ein anderer, wieder ins Leben zurückkehrte. Alle kirchliche Religiosität war aus mir wie mit einem Schlage geschwunden. Ich war in meiner Krankheit von Nonnen gepflegt worden, ich hatte diese Frauen an meinem Krankenlager bewundern gelernt, ich war mit den Sterbesakramenten versehen worden, aber die Zeremonie hatte schon damals in dem Augenblick zwischen einem schwachen Leben und einem stark herandrohenden Tode keinen sonderlichen Eindruck auf mich gemacht. Nun war das alles wie ausgelöscht, und ich hatte nur eine einzige große Dankbarkeit dafür, daß ich lebte, aber nicht etwa für einen Gott, der mir das Leben diesmal noch gelassen hatte.
Aber das metaphysische Bedürfnis war deshalb aus meinem Leben nicht ausgerottet. Vorerst wurde es zwar, insbesondere
in den ersten Jahren der akademischen Freiheit, von einem im Grunde physiologischen Lebenstrieb überwuchert, aber je mehr dieser Trieb infolge materieller, gesellschaftlicher und in meiner Natur gelegener Hemmungen nicht auf seine Rechnung kam, desto mehr gewann jenes metaphysische Bedürfnis wieder in mir an Raum und befriedigte seinen Drang in Versuchen poetischer Art. Wieder stellte sich jene ausschließliche Liebe zur Poesie ein, die nun freilich durch Leiden, Krankheit, durch Überwindung einer kirchlichen und selbst zurechtgemachten mystischen Religiosität und schließlich durch die Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben wesentlich vertieft war. Immer mehr glaubte ich an meine Berufung zum Dichter, wenn mich auch die produktiven Ergebnisse jenes Lebensabschnittes weder äußerlich noch vor mir selbst dazu genügend berechtigten.
Je mehr jedoch diese Berufung von mir und anderen Wohlwollenden gerühmt wurde, um so größer wurde meine Abneigung, aus diesem Berufensein einen Beruf im Sinne des Broterwerbes zu machen. War ich schon in meinem äußeren Leben in manchem Belang abhängig von anderen, angewiesen auf materielle Unterstützungen und Gnadenbeweise, so wollte ich wenigstens in der Kunst, der ich mich geweiht hatte, frei sein, wollte sie nicht materiell ausnützen. Aber die Umstände drängten mich anderseits, zu verdienen, die materielle Abhängigkeit war mir persönlich unerträglich, mein Stolz betonte ihre Unerträglichkeit und drängte mich zu Kompromissen. Meine Studien waren unvollendet und hätten mir, auch vollendet, ein Existenzminimum auf längere Zeit hinaus nicht gewähren können. So entschloß ich mich dennoch, mit dem einzigen, was ich konnte oder zu können glaubte, meinen Unterhalt zu verdienen, und folgte einem Antrag, der mich zum Unter- respektive Hilfsredakteur der Wiener Tageszeitung »Die Zeit« machte. Das war im Februar 1906.
Natürlich mußte ich erst einige Monate als sogenannter Volontär ohne jegliche Bezahlung, nur mit Zeilenhonorar, dienen.
Erst nach drei Monaten erhielt ich ein Fixum von 100 Kronen. Inzwischen aber hatte ich bereits erkannt, daß ich zu nichts weniger als zum Journalisten geschaffen sei, und an dem Tage, an dem ich mein erstes Fixum bezog, kündigte ich gleichzeitig, und am 1. Juni 1906 war ich wieder frei. Man lud mich auf ein Schloß nach Krain, wo ich fünf Monate als Hausgenosse und Freund des jüngsten Sohnes lebte. Aber auch darin litt es mich nicht. Ich konnte auch diese Art der Abhängigkeit nicht ertragen. Durch die Vermittlung des Vaters eines meiner Freunde, des Freiherrn von Haerdtl, erhielt ich eine Stellung als Sekretär des Wiener Jagdklubs, die ich aber auch nach wenigen Monaten, in der Erkenntnis meiner vollständigen Nichteignung zu diesem Berufe, kündigte. Im Oktober 1907 warf ich mich dann mit aller Energie auf meine unterbrochenen juristischen Studien und vollendete sie ein Jahr später, entschlossen, nunmehr doch in den Staatsdienst einzutreten und mir so wenigstens eine soziale Stellung und mit der Zeit die materielle Unabhängigkeit zur Ausübung meiner literarischen Neigung zu erkämpfen.
Zu dem Entschluß, in den Staatsdienst zu treten, trug wohl unter anderem ein besonderer Umstand mit großem Gewichte bei. Ich hatte eine junge Frau kennengelernt, die Tochter aus einem mir schon vorher bekannten Hause, die nach dreimonatiger Ehe allen Grund gefunden hatte, ihren Gatten, mit dem sie in Deutschland verheiratet war, auf Scheidung respektive (nach unserer juristischen Terminologie) auf vollständige Trennung der Ehe zu klagen. Ich lernte die junge Dame während des Schwebens des Trennungsprozesses kennen, und als dieser vollständig zu ihren Gunsten entschieden war, war die Möglichkeit unserer Vereinigung nach angemessener Zeit gegeben und wurde auch am 27. März 1909 verwirklicht. Vorher war ich, um nicht als bloßer Dichter ohne Namen in die Ehe zu
treten und um nicht von vorneherein in ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis zu dem Vermögen meiner Frau zu geraten, in den Justizdienst eingetreten, dessen wenn auch geringe Erträgnisse, verbunden mit den zunehmenden Einkünften aus meinen literarischen Arbeiten, mir immerhin eine relativ selbständige materielle Stellung innerhalb der Ehe gestatteten.
Nun war ich endlich so weit, daß ich meine ganze, vom Amte freibleibende Zeit der literarischen Produktion widmen konnte. Ich sammelte meine in verschiedenen literarischen Zeitschriften erschienenen Gedichte und gab sie zu Weihnachten 1909 unter dem Titel »Herbstfrühling« bei Axel Juncker in Berlin heraus. Diesem Buche folgte im Herbst 1911 meine zweite Gedichtsammlung »Und hättet der Liebe nicht«, gleichfalls bei Axel Juncker. Beide Bücher geben deutlicher, als ich es vermöchte, einen Begriff meiner künstlerischen und sittlichen Persönlichkeit. Sie sind mein echtes, ehrliches Glaubensbekenntnis in jeder Zeile. Denn ich habe nie in meinem Leben anders als aus der absoluten inneren Notwendigkeit heraus geschrieben. Keine Not, kein Vorteil hat mich je, auch nicht in den schwierigsten Zeiten, dazu vermocht, auch nur ein Wort hinzuschreiben, an das ich selbst nicht glaubte. Darum hat mich die Not, im Gegensatz zu anderen, bei denen dies sogar im edelsten Sinne geschehen ist, nie produktiv gemacht, während in der relativen Sorgenlosigkeit meines jetzigen, wenn auch bescheidenen Lebens (1913) alle Quellen meiner lange zurückgedrängten Schaffenskraft reichlich fließen. Dies um so mehr, als ich, bei immer zunehmendem literarischem Verdienste, im Vorjahr auch meinen juristischen Beruf aufgeben konnte und nur mehr meiner künstlerischen Arbeit leben darf.
Dies in großen Umrissen und im wesentlichen der äußere Gang meines Lebens, der ja insoweit auch der innere Gang meines Lebens ist, als die Schicksale, die einem Menschen zuteil werden, von der Art seines Charakters und seiner Persönlichkeit abhängig sind.
Innerlich gefestigt, soweit es ein Mann in meinen Jahren sein kann, stehe ich eigentlich erst jetzt, nach Erlangung meiner moralischen und materiellen Unabhängigkeit, am Anfang meines Lebens! Auf den Beruf eines staatlich angestellten Richters habe ich verzichtet, aber ich will es nicht aufgeben, in einem anderen Sinne Richter zu sein, nicht einer, der Händel schlichtet zwischen streitenden Parteien, oder ein solcher, der die Beleidigungen der staatlichen Autorität in deren Namen rächt, sondern vielmehr ein solcher, der Recht von Unrecht scheidet in seinen Werken, wie ich dies schon bisher getan habe in meinen Dichtungen. Noch schärfer als bisher will ich meinen Blick einstellen auf all die kleinen und großen Unterdrückungen, die in der Welt denen zuteil werden, welche sanften Herzens sind. Denen will ich den Spiegel der Wahrheit vorhalten, welche hart und ungerecht sind; und jenen anderen, welche unter diesen leiden, will ich wenigstens den Trost des Bemerkt- und Verstandenseins zukommen lassen.
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