Lebensbericht an Felix Braun LEBENSBERICHT AN FELIX BRAUN, WIEN von Anton Wildgans
Mödling, 11. Februar 1925
Lassen Sie mich Ihnen vor allem herzlichsten Dank sagen für das schöne Nachwort, das Sie zu meinem Reclambändchen geschrieben haben. So kann sich nur ein Dichter in den Dichter einfühlen und mehr erahnend als wissend das im höchsten Sinne
Wahre und Richtige treffen. Wenn ich Sie dennoch telegraphisch gebeten habe, mit der Abänderung der Korrektur innezuhalten und diesen meinen Brief abzuwarten, so geschah es, um auch meinerseits der Wahrheit zu dienen. Wie das zu verstehen ist, sollen Ihnen die folgenden Bekenntnisse, die Sie sich gefallen lassen mögen, andeuten.
Ich habe die furchtbarste Kindheit gehabt, die man sich bei einem Kinde meiner Kreise denken kann. Meine Mutter starb, als ich kaum vier Jahre alt war. Ein Jahr später heiratete mein Vater, hauptsächlich meinetwegen, ein alterndes Mädchen, die Tochter eines damals schon längst verstorbenen altösterreichischen Militärarztes. Aber die Liebe zu mir und zu Kindern überhaupt, die sie dem Bräutigam vorgetäuscht hatte, war verschwunden, als sie ihr Ziel erreicht hatte, und ich war nur mehr Last, Störenfried, ein Überzähliges, Hinderndes. Dabei wurde die Komödie der Mutterliebe dem überarbeitet heimkehrenden Manne weiterhin vorgespielt und ihm gegenüber mein verschlossenes und verstocktes Wesen betont, das Zärtlichkeit nicht zu erwidern wisse. So entstand Parteinahme des ahnungslosen, im stillen des gemarterten Herzens abgöttisch angebeteten Vaters gegen das eigene Kind. Dazu kam die Eifersucht der Stiefmutter auf die erste Gattin, der jeder Augenblick des Alleinseins mit dem Vater abgestohlen werden mußte. So waren diese Augenblicke selten, und wenn sie kamen, war die Zunge wie gelähmt, da sie die Wahrheit um des Friedens willen nicht sagen wollte, nicht sagen durfte und der heuchelnden Lüge nicht fähig war. So kam auch der Vater zu dem Eindrucke, einen Verschlossenen, Abwehrenden, Verstockten zum Sohne zu haben. Darüber waren in seelisch durchfieberten Nächten des Kindes viele heiße Tränen geflossen. Nur manchmal in Krankheiten brach noch die Sorge des Vaters durch, auch ängstlich verheimlicht vor der Eifersucht der Lebendigen auf die Tote. Aber es gab doch Augenblicke, in denen der damals Schwächliche, das Kind einer Lungenschwindsüchtigen, etwas von — Liebe ahnte. Für diese Augenblicke, in meiner Erinnerung an den Fingern einer Hand abzuzählen, habe ich meinem Vater Denkmale errichtet, für sie und für sein späteres ungeheures Leiden.
Mit kaum 16 Jahren verlor ich auch ihn, nicht als Lebewesen, sondern als Vater. Nach einer aufregenden Parlamentssitzung, wo er seinem Minister assistiert hatte, kam er eines Abends nach Hause, lag erschöpft auf einem alten Ledersofa, faltete mehrmals krampfhaft die Hände, wollte zu mir etwas sagen — und hatte die geordnete Sprache des Menschen verloren. Ein Blutaustritt im Gehirn hatte das Sprachzentrum zerstört. Aber der Verstand, die Seele waren wach geblieben. Auch die Energie eines Menschen hohen Geistes, die das Verlorene zurückzuerringen hoffte. Ein unsägliches Martyrium folgte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend ging der Unglückselige im Zimmer auf und ab, mit der Uhr in der Hand Wörter, die man ihm vorsagen mußte, einübend. Aber die eben noch mechanisch memorierten Worte entglitten im nächsten Augenblicke wieder der Fähigkeit, sie auszusprechen. Wer dächte nicht an Sisyphos und an die Arbeit der Danaiden? Dieses eintönige Murmeln einzelner Wörter und Sätze, die bis zum Selbstvernichtungs-Paroxysmus gesteigerten Anfälle der Verzweiflung über die ewige Fruchtlosigkeit, über ewiges Mißlingen, diese Tränenausbrüche hilfloser Augen, diese entsetzlichen Kämpfe eines gemarterten Gehirnes und zerbrechenden Herzens, die rohe Gleichgültigkeit sonstiger Familienmitglieder — all dies war die Begleitmusik meiner Jugend.
Aber es kam noch Schlimmeres hinzu! In elf langen Jahren des Leidens starb Glied um Glied ab. Der Lähmung des Sprechzentrums folgte die der Beine und schließlich die des linken Armes. Die Klarheit des Verstandes verdunkelte sich allmählich, nur das Herz blieb lebendig, reifte zu wundersamer kindlicher Güte. Eine verklärte Seele erlöste endlich der Tod. Aber die elf Jahre der Pflege nicht so sehr des Gatten als des Er-
Halters hatten auch ein anderes Herz erlöst; ein Herz, das mir einst hart und bitter gewesen, erlösten sie von seiner Härte und Bitterkeit. Friede auch seiner Asche. An der Bahre des Dulders standen zwei Versöhnte.
Nun erst kam wirkliche Armut. Die Witwenpension war ein geringer Bruchteil des Ruhegehaltes des noch Lebenden. Da hieß es: »Rechnen und Sparen und nach außen die Haltung bewahren, daß es nicht heiße: die Bettelleut'!« Auch dies ein Martyrium und ein Übermaß der Sühne. Für den Sohn aber, der auf die Pension der Stiefmutter kein Recht des Mitgenusses hatte, kam — in den Anfängen des Universitätsstudiums — die Notwendigkeit des eigenen Broterwerbes und der stolze Wunsch, dem auch gewachsen zu sein. Was aber ist ein unfertiger Student? Es ergaben sich alle persönlichen und gesellschaftlichen Erniedrigungen. Aber endlich — nach manchen Abenteuern und bitteren Unterbrechungen — war das Ziel erreicht und die Möglichkeit, bei Gericht einzutreten, gegeben. Und vor dem Ungeheuren menschlichen Irrens und Leidens, verblaßte das Bild des durch die Kraft der Jugend überwundenen eigenen Leidens, und es ward Mitleid, und es ward Liebe.
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