Curriculum vitae 2 CURRICULUM VITAE von Anton Wildgans
Am Ostersonntage des Jahres 1881 wurde ich zu Wien unter den Weißgärbern geboren. Mein Vater sowohl als auch die anderen männlichen Vorfahren bis zum Urgroßvater meines Vaters hinauf waren Beamte, teils bei den staatlichen Zentralstellen, teils im Dienste der Residenzstadt. Ein früherer Ahnherr betrieb jedoch einen Bierschank auf dem heutigen Hohen Markt. Er war noch Wiener Bürger und besaß das Haus, in dem er sein Gewerbe hatte. Später mußte – zu Ende des 18. Jahrhunderts – anläßlich einer strittigen Erbteilung das Haus verkauft werden. Da der Teilenden mehrere waren, entfiel nur ein Geringes auf die einzelnen. Und auch dies verlor sich im Wechsel der Generationen, so daß mein Vater nur von dem Gehalte eines kleinen Ministerialbeamten lebte, als ich zur Welt kam. Da meine Mutter gleichfalls eine blutarme Person war und meinem Vater nichts anderes in die Ehe mitgebracht hatte als eine verwitwete Schwester und deren Kind, die mein Vater aus gutem Herzen gleichfalls erhielt, so dürfte die Not damals ziemlich groß gewesen sein und jene Zeit, in welcher mein Vater bei strenger geistiger Arbeit oft den Tag über hungerte und nur des Abends ein wenig warme Suppe und meistens kalte Wurst zu sich nahm, viel zu dem raschen Verfall seiner Kräfte in späteren Jahren beigetragen haben, so daß er als ein Mann in den Vierzigern elend dahinzusiechen begann. Freilich mag damals, als die Katastrophe seiner Verwirrung eintrat, auch eine Liebe mitgespielt haben, die dem Frühgealterten, von der Herzenseinfalt eines Jünglings, begegnete und vielleicht die erste große und erschütternde seines Lebens war.
Denn, ob er auch meine leibliche Mutter sehr geliebt haben mochte, so viel ich aus Erzählungen anderer von ihr weiß, scheint sie eine mehr derbe Person gewesen zu sein, nicht so sehr, was ihr Herz, als was ihre Lebensart betrifft. Sie war als ein junges, blühendes Landmädchen aus ihrer mährischen Heimat nach Wien gekommen und hatte sich bei meinem damals schon verwitweten und greisen Großvater als Wirtschafterin verdingt. Mein Vater, der ein zärtlicher und ehrfurchtsvoller Sohn war, lebte mit dem alten Herrn in gemeinsamer Wirtschaft. Später, als dieser zu kränkeln anfing, pflegte ihn meine Mutter mit viel Aufopferung bis zu seinem Tode. Mein Vater hat mir ihr damaliges, beispielloses Betragen immer als einen Hauptgrund dafür angegeben, weshalb er meine Mutter heiratete. Mochte übrigens auch viel mitgespielt haben, daß er sich nach dem Tode seines Vaters sehr einsam fühlte und daß ihm das Nächstliegende lieber war als das, was er erst hätte suchen müssen. Darüber will ich nicht urteilen.
Als ich vier Jahre alt war, starb meine Mutter an der galoppierenden Schwindsucht. Ich erinnere mich jedoch genau der Zeit, da sie noch gesund war, als auch an ihr Kranksein bis zu dem Zeitpunkte, wo man mich von ihr, der Ansteckungsgefahr wegen, wegnahm.
Meine Eltern hatten damals eine kleine Wohnung in der Radetzkystraße inne. Ich könnte die Einrichtung und Einteilung der Räumlichkeiten zeichnen, obwohl ich sie seit meinem vierten Lebensjahre nicht mehr gesehen habe. Ein Zimmer und ein Kabinett gingen auf die Straße, ein großes Zimmer mit einem breiten, lichten Doppelfenster hatte die Aussicht in ein Gartengeviert, das durch das Aneinandergrenzen mehrerer Hofgärten gebildet war. Dieses Zimmer war mein Lieblingsaufenthalt.
Damals war auch meine seligste Kinderzeit. Das spüre ich noch aus dem süßen Dämmer heraus, der über allem von damals in mir liegt. Im Grunde war ich freilich auch in dieser Zeit schon meistens allein, aber nichts gab es in meiner Einsamkeit, was gegen mich war. Ich hatte meine Bausteine, mit denen ich ganze Tage lang auf dem Fußboden herumrutschend baute. Durchs Fenster sah ich geradeaus in den Himmel, den ich nur in lichter, sonniger Erinnerung habe. Stieg ich manchmal, was mir allerdings verboten war, auf das Fensterbrett, so sah ich auch die Wipfel vieler Bäume und ferne schimmernde Dächer. Auch gab es Musik in Fülle. Werkelmänner und Musikanten wechselten im Hofe ab, und es war einer meiner Hauptspäße, wenn ich ihnen in Papier gewickelte Kreuzer hinunterwerfen durfte, wobei mich die Mutter freilich fest am Zipfel hielt und dem schwachen Schwunge meines Wurfes mit einem kräftigen Ruck nachhalf, damit die Münzen nicht am Fenstersimse liegen blieben. Und dann, welch eine Welt waren die vielen Mandlbogen, die ich mit Wasserfarben nach Vorlage kolorieren durfte, und die dann von meinem Vater auf Pappendeckel aufgeklebt und ausgeschnitten wurden, wenn sie nicht ganz und gar verklert waren. Da gab es Soldaten, ganze Bataillone, marschierende und solche, die kerzengerade dastanden, das Gewehr nach der alten Weise präsentierend. Dann waren wieder Bogen mit Wäldern, Räubern und Ungeheuern. Alles dies richtete mir mein Vater, daß ich es aufstellen konnte. Und so war ich, auf dem Boden sitzend, immer umgeben von solchen bunten Völkern, denen ich wunderliche Städte und Festungen baute – oft bis tief in die Dämmerung. Da wachte dann ein anderes, viel unbestimmteres Leben um mich auf, das mich ängstigt jedoch ohne mich zu schrecken. Aber nur solange, als ich mich an die Dunkelheit nicht gewöhnt hatte. In solchen Stunden verfiel ich darauf, mir Schuhe und Strümpfe auszuziehen und lange Zwiegespräche mit meinen Füßen zu halten. Es war recht wunderlich, was ich trieb. Ich gab meinen Füßen Namen, wie ich sie aus den Märchen wußte, die mir mein Vater erzählte. Sie mußten miteinander zärtlich sein und sich bekämpfen. Schließlich verliebte ich mich buchstäblich in meine Füße und küßte sie, sobald ich nur allein war und sie ohne Furcht vor Entdeckung entblößen konnte. Denn das war mir natürlich aus Besorgnis vor Erkältung verboten worden. Ich glaube demnach daß ich die ersten angedeuteten Beziehungen erotischer Natur zu meinen eigenen Füßen gehabt habe. Auch später haben meine Füße, und Füße überhaupt, eine Rolle in meinem Seelenleben gespielt, wovon ich an seinem Orte erzählen werde.
Auch eine andere Vorliebe, die für mein Leben wichtig werden sollte, habe ich in jener Zeit gefaßt. Die Wohnung meiner Eltern war nicht weit von jenem Stadtteile entfernt, wo sich damals noch die Franz-Josefskaserne mit ihrem großen Exerzierplatz befand. Da führte mich nun die Mutter tagtäglich vormittags hin und ich durfte den Übungen der Soldaten nach Herzenslust zusehen. Von dem Anblicke der mächtigen Kaserne und ihrer roten Mauern, Zinnen und Türme, von der Betrachtung der Soldaten nahm ich viel in die Phantasien meiner einsamen Stunden und in spätere Zeiten hinüber, was zu vielerlei Konflikten mit meinem Vater führte, der aus mir einen Juristen und keinen Soldaten machen wollte.
Inzwischen fand dieses Vergnügen bald ein Ende, denn meine Mutter erkrankte im Frühjahr des Jahres 1885 und niemand führte mich mehr zu der Kaserne. Nun verlegte sich auch der Schauplatz meiner Spiele aus dem Hofzimmer in das vordere Kabinett, wo meine Mutter lag und mich anfangs, als man die Natur der Krankheit noch nicht kannte, immer bei sich haben wollte. Ich erinnere mich nun, daß ich ihr nicht gerade gerne Gesellschaft geleistet habe und sie mich nur dadurch länger an sich zu fesseln vermochte, daß sie mir von dem Chaudeau, den sie mehrmals im Tage zu sich nahm, ein Weingläschen voll zukommen ließ. Um diesen Preis blieb ich.
Der Zeitpunkt, wann ich von meiner Mutter weggenommen wurde, ist mir nicht mehr im Gedächtnis, wohl aber jener Nachmittag, an dem ich von ihr Abschied nahm. Ich war da eben in meinen Spielen auf dem Fußboden des Hofzimmers begriffen, als mein Vater auf mich zukam, mich bei der Hand nahm und in das Kabinett meiner Mutter führte. Es waren da die grünen Jalusien heruntergelassen, so daß der ganze schmale Raum in einem feierlichen Dämmer lag. Mein Vater führte mich nun zu dem Bett meiner Mutter und sagte zu mir: »Küß der Mutter die Hand.« Da reichte sie mir ihre weiße abgezehrte Hand hin und ich küßte sie. Dann aber drehte sie sich so rasch als es gehen mochte von mir weg der Wand zu. Ich habe das Antlitz meiner Mutter von damals gar nicht in Erinnerung, unvergeßlich aber ist mir jene rasche Bewegung des Wegdrehens geblieben und der Anblick ihres schmalen Rückens in dem verknitterten Hemd und ihrer Haare, die in verwirrten Strähnen auf dem weißen Kissen lagen.
An diesem Tage starb meine Mutter. Ich habe sie kaum gekannt. Es hat mir auch niemand mehr von ihr Näheres erzählt. Ich weiß daher nicht, was ich ihr außer meinem Leben zu verdanken habe. Vielleicht hätte sie mich nicht allein lassen sollen und manches wäre besser geworden mit mir. Vielleicht auch nicht. So bin ich freilich einer geworden, der nirgends daheim ist und dem lange nichts heilig war in einer Zeit, da wir der Zuflucht und des Heilighaltens bedürfen. So mußte ich mir freilich alles erst erkämpfen, was sonst den Kindern als Erbtum ihrer Vorfahren mühelos und unversehens übermittelt wird, und dieser Kampf hat vielleicht mehr Kräfte gebraucht, als dies meiner Entwicklung gut tat. Mag es sein. Bleibt mir doch so auch der Trost, daß sich in mir alles so entwickeln durfte wie es mochte. – Denn später, als ich aufschoß, war kein Gärtner da, der meine Triebe beschnitt. Und so wucherten sie, wie es Gott wollte.
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