Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Schicksal in Mödling

Eine Kindheitserinnerung von Anton Wildgans

 

 

 

In meine Knaben- und Jünglingszeit schattete als eine dunkle, gefahrdrohende Wolke das große, von düsterer Rätsel­haftigkeit umwitterte Leiden meines Vaters. Der vorletzten, vielleicht tragischesten Phase dieses Leidens habe ich Erwäh­nung getan, als ich von der eigenen schweren Krankheit er­zählte, die mich als Siebzehnjährigen befiel. Die Zerstörung an Leib und Geist meines Vaters hatte aber schon viel früher be­gonnen, als ich fast noch ein Kind war, und kam zum ersten­mal zu deutlichem Ausbruche am Pfingstsamstag des Jah­res 1895. Wir weilten damals zum Sommeraufenthalte, eine halbe Bahnstunde von Wien entfernten, dem tausendjährigen Wienerwaldstädtchen Mödling, in dem nämlichen Orte, wo ich in der zweiten Hälfte meines Lebens — gewiß nicht ohne tie­fere Zusammenhänge und Bedeutung! — eine andere Heimat und am Osthange des Kalenderberges, neben der uralten Pfarr­kirche, das große Glück des eigenen Hauses und Gartens ge­funden habe. Damals aber wohnte ich mit meinen Eltern im Gartenflügel des Valzachi'schen Hauses auf dem Marktplatze. Dieses gerade gegenüber der Pestsäule gelegen, bildet mit sei­nem Nachbarn, dem sogenannten Managettahaus, und einem nächsten, noch älteren Gebäude eine geschlossene Front, die in Mödlings älteste Zeile, in die Herzoggasse hineinreicht. Dem Valzachi'schen Hause freilich sieht man seine ehrwürdigen Jahre nicht an, da seine einstöckige Fassade irgendwann nach irgendeinem Zeitgeschmäcke modernisiert wurde. Wenn man aber durch ein Türchen des meist geschlossenen schweren Holz­portals den breiten, tiefen und gewölbten Flur betritt, so weht einen sofort der Atem eines früheren Jahrhunderts an. Niedere, wacklige Gänge führen von da zu der gewundenen Steintreppe des Vorderhauses, das damals in allen seinen ebenerdigen Tei­len von dem eigentümlichen Misch-Aroma der gebräuchlichen Kolonialwaren erfüllt war, denn der Hausherr besaß eine solche Handlung. Auch im Torflur war dieser merkwürdige und bezeichnende Duft von allerhand Gewürzen, von Kaffee, hänfenen Säcken und roh gezimmerten Kisten sofort zu spüren und bildete einen jähen Gegensatz zu den mannigfachen Ge­rüchen des Marktes vor dem Haus, in denen jene der frischen Gemüse und Blumen, des rohen Fleisches und manchmal der Fische vorherrschten. Und ebenso fühlbar war auch der Gegen­satz zwischen Hitze und Lärm der Straße und der Kühle und Stille, die einen sofort umfing, wenn man den Torflur betrat. Sobald man ihn aber über sein hallendes Pflaster durchschrit­ten hatte, befand man sich auf einem lang hingestreckten Wege, der zwischen einer hohen, von Parkbäumen überragten Mauer rechts und einem fast ebenerdigen niederen Gebäude links in den nach rückwärts gelegenen Garten führte und übrigens auch heute, genauso wie damals, führt. Die drei oder vier Räume nun, die dieser schmale Hoftrakt beherbergt, bildeten unsere damalige Sommerwohnung, deren westliche Fenster auf die gedachte hohe Parkmauer blickten, deren östliche hingegen in den schwülen Schatten eines mit Kastanien bestandenen Hofes hinausgingen. Ich erwähne dieses etwas düstere, mit Sand be­streute Geviert nur deshalb, weil sich dort an der Feuermauer des Nachbarhauses auf einem niederen steinernen Sockel ein schmiedeeiserner Käfig befand, in dem sich der Hausherr eine Elster hielt. Dieser schwarz-weiße Vogel, der übrigens viel Ge­stank und mit seinem bösen Gekrächze widerwärtigen Lärm verursachte, war mir ein Gegenstand des Abscheues und Grau­ens. Ja, er war mir so unheimlich, daß ich jenen Hof nur ungern und selten betrat und mich lieber auf der anderen Seite unseres Wohntraktes aufhielt. Dort, in der schmalen, mauernbegrenzten Fortsetzung des Torflures, schoß ich mit selbstgefertigten Bogen und Pfeilen nach allerhand Zielen, dort schob ich mit meiner um sieben Jahre jüngeren Schwester nach Kegeln, dort übte ich mich im Laufen und Springen, von dort aus sah ich über den Zaun des rückwärtigen Gartens, dessen Benützung der Hausherr sich und seiner Familie vorbehalten hatte, und dort auf den Steinstufen der schmalen Türe, die in unsere Wohnung führte, saß ich besonders gern und las in meinen Büchern. Und dort vollzog sich auch, wenigstens in seiner bildhaften Auswirkung, jenes düstere und schicksals­schwere Ereignis, das — ohne daß ich dies damals auch nur zu ahnen oder gar zu ermessen vermocht hätte — entscheidend für mein ganzes Leben werden sollte. Bevor es aber dazu kam, begegnete mir anderes, das den eben erst Vierzehnjährigen durch die Neuheit des Gefühls erschütterte.

 

Unser Hausherr, ein älterer Witwer, hatte zwei erwachsene Töchter, deren eine, ihrer italienischen Abstammung nach, von besonderer, südlicher Schönheit war. Anna und Angela hießen die beiden Fräuleins, die ich — zumal sie sehr zurückgezogen lebten und nur selten zu sehen waren — als eine Art von höheren Wesen betrachtete. Dies hinderte mich freilich nicht, mich in die Schönheit mit aller Inbrunst knabenhaft verschäm­ten Gefühls zu verlieben, wie man sich eben mit vierzehn Jahren aus der Fülle einer ins Allgemeine gerichteten Sehn­sucht in ein Gegenwärtiges und doch Unerreichbares verliebt. Besonders wenn Freiheit und Sommer ist und die Kräfte der jungen Seele nicht durch die tägliche Mühsal des Schultages in Schach gehalten werden. Sosehr ich indessen bemüht war, mei­nen Zustand zu verbergen, dürfte er der schönen Italienerin nicht ganz entgangen sein. Denn ich erinnere mich eines Augenblicks, von dem an es mir schien, als ob sie mich mit einer anderen Nuance mütterlichen Wohlwollens behandelte.

Da tauchte eines Tages eine Cousine der Damen auf, ein kleines ungarisches Mädchen, das, selber noch ein zwölfjähri­ges Kind, alsbald meine Gespielin wurde. In meinem Herzen war nun eigentlich kein Platz mehr. Aber der große Taschen­spieler Naturtrieb brachte immerhin das Kunststück zuwege, jenen freien Raum zu schaffen oder wenigstens als vorhanden vorzutäuschen. Nicht daß ich mich auch in die kleine Ungarin verliebt hätte! Denn das Erreichbare hatte bereits damals für mich die bedenkliche Eigenschaft, von mir übersehen und nicht ausgenützt zu werden. Vollends die weibliche Zärtlichkeit, ja Sinnlichkeit, wenn sie sich mir von selbst bot, hatte für mich etwas, was mein eigenes, wenn auch nur kindliches, unbestimm­tes und ahnungsloses Begehren geradezu paralysierte. Das Ele­mentare schlummerte indessen noch tief in meinem Unterbe­wußtsein und wirkte noch nicht in meinen Tag. Denn anders wäre es nicht möglich gewesen, daß unsere Spiele in vollster kindlicher Unbefangenheit vor sich gingen. Nur wenn wir ein­ander an Abenden mehr zufällig denn aus Absicht trafen, wal­tete zwischen uns von allem Anfang an eine gewisse Verhalten­heit und Schweigsamkeit. Meist war es so, daß ich mit meiner Viola — ich lernte eben damals dieses Instrument spielen — auf den Steinstufen der schmalen Türe saß, die von dem ver­längerten Torweg in unsere Wohnung führte, und auf den Saiten klimperte. Die kleine Schwester war da bereits schlafen gelegt worden, die Großmama, deren Obhut wir in den ersten Wochen des Sommers allein anvertraut waren, legte bei irgend­einem kleinen Petroleumlämpchen auf der Gartenterrasse die übliche Neunerpatience, und das Dienstmädchen klapperte in der Küche mit dem Geschirr, das sie abwusch. Da glitt dann aus der Tiefe des stockdunklen Torflures ein kleiner leiser Schatten hervor und ließ sich an meiner Seite auf den Stein­stufen nieder. Da saßen wir nun, ohne viel zu reden, nebeneinander, während ich auf meiner Viola allerhand leise Akkorde griff und dazu wohl auch irgendeine einfache Melo­die summte. Vor uns war die hohe Mauer des herrschaftlichen Nachbargartens, dessen alte Baumwipfel schwarz und geheim­nisvoll in den sternenhellen Sommerhimmel ragten. Das Räder­rasseln vereinzelter Wagen klang wie gedämpft vom Haupt­platz herein, nur selten der Zusammenklang redender oder lachender Stimmen draußen Vorübergehender oder das ferne Anschlagen wachender Hunde. Da geschah es eines solchen Abends, daß ich in der Dunkelheit zwei seltsam funkelnde Augen auf mich gerichtet fühlte, daß ich aus meiner seelischen Verlorenheit jäh aufwachte, wie von einem süßen Schwindel erfaßt wurde, und daß wir einander küßten. Es war nur ein zögerndes, scheues Berühren der Lippen, aber aus Urtiefen des Blutes stieg es damals erschütternd zum erstenmal aus mir empor, zum ersten und auch für lange zum letzten Male. Denn bald darauf geschah jenes Schicksalhafte, um dessentwillen ich von jenem Sommer in Mödling erzähle. Die Eltern waren eines Nachmittags von Wien, wo der Vater noch dienstlich festge­halten war, zu uns herausgekommen und hatten mich auf einen kleinen Spaziergang in die Umgebung des Städtchens mit sich genommen. Wohin es gegangen war, kann ich mich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich aber hinauf in die Schwarzföhrenwälder des sogenannten Kalenderberges, auf dessen östlichem Abhang, den Ort und die Ebene bis zum Leithagebirge über­schauend, die uralte Pfarrkirche zu St. Othmar hingebaut ist. Nächst dieser, auf einer alleinstehenden Bank, rasteten wir auf dem Rückweg noch ein Weilchen unter einem Himmel, der zwar unendlich weit, aber bis an den Horizont von blaugrauen Wolken bedeckt war. Es war ein drückend schwüler Abend und die Luft unbewegt wie vor dem Ausbruch eines Gewitters. Lange saßen wir dort, der Vater müde, verfallen und bleich, die Mutter nur wenig und sehr behutsam redend, und ich un­gefragt und daher schweigend. Endlich — es war schon ziemlich dunkel geworden — verabredeten die Eltern, das Abend­essen in einem dem Hauptplatz nahe gelegenen Gastgarten — der Wirt hieß damals Deisenhofer — allein miteinander ein­zunehmen, indessen ich nach Hause geschickt wurde. So trenn­ten wir uns dann vor dem Valzachi'schen Hause. Es war ungfähr acht Uhr abends.

Als ich nach Hause kam, war die Schwester schon zu Bett gebracht worden. Ich kam eben noch zurecht, um bei ihrem Abendgebet an ihrem Bettchen zu sitzen, wie dies tägliche Ge­wohnheit war. »Müde bin ich, geh´ zur Ruh'.« Sie hatte es ja von mir gelernt, so wie sie alles von mir gelernt hatte: schrei­ben in ungefügen Blockbuchstaben, zeichnen und malen mit Wasserfarben und das kleine Einmaleins — lange bevor sie in die Schule kam. – Dann verzehrte ich noch mein Abendbrot und beeilte mich, zu meinen Steinstufen zu gelangen, um mein kleines Mädchen nicht zu versäumen, den Blick in das Dunkel des Torflures gerichtet, dem es von Sekunde zu Sekunde enttauchen mußte. Von dort her kam aber an diesem Abend anderes.

Da wurden plötzlich von der Straße her beide Flügel des Tores hastig geöffnet. Im rötlichen Gaslichtdämmer des Markt­platzes sammelten sich vor der Einfahrt Menschen an. Und schon im nächsten Augenblicke, ehe ich mir, dem Flure zu­eilend, dies alles deuten konnte, schwankten die Lichter einiger Stalllaternen unter die schwarze Wölbung. Schwere und doch merkwürdig behutsame Schritte hallten mir entgegen. Es waren Knechte und Schankburschen des nahen Gasthofes, die meinen bewußtlosen Vater brachten.