Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
AVE MARIA
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ERSTE AUTOFAHRT

AVE MARIA

Anton Wildgans

(1881-1932)

 

 

Ave Maria

Eine kleine Novelle.

(Geschrieben am 22.Juli 1911 in San Martino di Castrozza, Südtirol; Erstveröffentlichung in „Anton Wildgans – Ein Leben in Briefen“ Band 3, herausgegeben von Lilly Wildgans 1947)

 

I.

Es war im März. In den Nächten tobte der Südwind durch die Stadt. Rüttelte an den Fenstern, kreiselte die Wetterfahnen auf den kleinen Ecktürmen der neuen Häu­ser, surrte in den Telegraphendrähten und machte, daß die Scheiben der Straßenlaternen zitterten. An den Tagen war der Himmel blau wie im Frühling, in manchen Gär­ten schlugen die Sträucher aus, Weiber und blasse Kinder verkauften Veilchen in den Straßen der Inneren Stadt, und manche Geschäftsleute spannten die weißen Flachen aus wie im Sommer. Auf den sonnigen Plätzen war es heiß, während man im Schatten noch frösteln konnte und sich verkühlen.

Viktor Semmel, der Gymnasiast, war um jene Zeit allein in "Wien. Sein Vater, der eine schwere Krankheit überstanden hatte, weilte mit der Mutter im Süden. Irgendwo da unten in einem kleinen, billigen Orte am österreichischen Meere. Denn der Sektionsrat Semmel hatte außer seinem Gehalt kein anderes Einkommen. In­dessen wohnte Viktor zusammen mit der alten Köchin in der Wiener "Wohnung seiner Eltern, saß seine Schulstun­den ab, lernte seine Aufgaben, so gut es gehen mochte, und trachtete, nur um Gottes willen keine Zensur zu bekom­men. Denn er wußte, wie es seinen Vater kränkte.

An Sonntagen freilich, da wanderte er allein hinaus vor die Stadt. Oder fuhr mit der Stadtbahn nach Schönbrunn und kam nach Hause, wann er wollte. Es war an solchen Tagen das Leben eines Universitätsstudenten, das er führte. Es machte ihn frei und glücklich, wenigstens ein paar Stunden in der Woche. Denn sonst litt er sehr unter dem Gymnasium.

An einem solchen Abend war es, daß er, von Grinzing heimkehrend, durch die Alservorstadt wanderte. Es war gegen elf Uhr, und Viktor war müde und hungrig.

Aus einem Kaffeehaus, an dem er vorüberkam, hörte er die Klänge einer Zigeunerkapelle. Das lockte ihn und er trat ein.

Nun war dieses Kaffeehaus aber ein solches von ganz besonderer Art. Und als Viktor Semmel erst ein wenig zu sich gekommen war, wäre er am liebsten auf und davon gegangen. Nicht, daß ihn das Treiben nicht interessiert hätte, aber der Gedanke, daß ihn hier ein Professor sehen könnte, ließ seine Beine ganz schwach werden. Darum zog er sich in eine verborgene, logenartige Ecke des Saales zurück.

So oft eines der geschminkten und aufgedonnerten Wei­ber an ihm vorüberkam, sah er wie versteinert und heiß errötend auf seinen Teller nieder. Denn er war keines­wegs ein verdorbener Junge. Er war noch in jenen Jahren, da sich die Knaben die physische Liebe, die sie nur aus den zynischen Andeutungen wissenderer Kameraden kennen, als eine Beschmutzung der in Träumen angebeteten Ge­liebten vorstellen, und er war in seinem Herzen gefeit durch die Liebe zu Margherita Marcherini.

Seit seinem neunten Jahre kannte er sie. Damals waren sie zusammen in dieselbe Tanzstunde gegangen. Jede Woche am Samstag. So waren auch die Familien der bei­den Kinder bekannt geworden, verkehrten miteinander, und Viktor Semmel, der Gymnasiast, wurde alljährlich

bei Hofrat Marcherini zum Hausball eingeladen. Er wäre zwar lieber diesen Unterhaltungen ferngeblieben, denn es gab da immer eine Menge elegant angezogener und ein­gebildeter Buben, die seiner wenig achteten und den Mädchen den Hof machten wie Erwachsene. Das konnte Vik­tor nicht.

Es war nach Mitternacht, als er den Markör rief, um zu zahlen. Die Luft im Kaffeehaus war bereits dick zum Schneiden. Ein grauer Tabakdunst bildete um jedes Auer-licht der Girandolen einen Hof, wie ihn der Mond im Nebel hat. Der ganze Raum war erfüllt von einem wirren Durcheinanderreden unzähliger Stimmen. Manchmal ki­cherte irgendwo ein ordinäres Dirnenlachen auf oder das brutale Gegröle eines halbbesoffenen Gastes.

Am anderen Ende des Saales setzte der Primas den Bogen an die Violine. Man konnte auch sehen, daß er ihn schon langsam über die Saiten zog. Aber noch hörte man keinen Ton. Die zarte Geigenstimme wurde von dem Harmonium übertönt und von den Geräuschen des Saales.' Allmählich aber legte sich der Lärm und war nur noch wie das Niederfallen einzelner Tropfen nach einem Platz­regen. An dem Pult des Primgeigers war ein weißer Kar­ton aufgehängt. Auf dem stand mit großen schwarzen Lettern: „Ave Maria von Schubert."

Und da war es eigentümlich, was Viktor um sich beob­achtete. Keine einzige der Dirnen, die in seinem Gesichts­kreise saßen, flüsterte auch nur ein Wort. Diese blassen, künstlich geröteten Gesichter, die eine Minute früher noch von dem absichtlichen Temperament ihres Mienenspieles mehr gequält als belebt waren, alle diese erloschenen Augen, alle diese gemalten Lippen, die auffallenden, aber fanierten Kleider, die Atlasschuhe der einen mit ihren vertretenen Absätzen, die Lackschuhe der anderen mit den Staubspuren stundenlangen Straßenwanderns, alles dies war nun in seiner ganzen Armseligkeit plötzlich entlarvt, war nur eine große schweigende Müdigkeit. Es war nicht Ergriffenheit von der rührenden Kantilene des Gebetes. Aber vielleicht ging durch die Seele mancher dieser Dirnen ein weißgekleidetes Mädchen, das ein Marienbild trug auf seidenem Polster oder eine Lilie in den Kinderhänden, mitten unter anderen weißgekleideten Kindern, während hinter ihnen der purpurne Himmel schwankte und der Priester im goldenen Mantel einherschritt mit der Monstranze, umqualmt vom blauen Duft des Weihrauches.

Das Lied war zu Ende. Das Publikum klatschte wütend in die Hände. Der Primas mit dem Aussehen eines unga­rischen Taschendiebes dankte mit dem breiten Grinsen seiner weißen Zahne. Dann wandte er sich einen Augen­blick zu seinen Musikern, hob den Bogen wie einen Takt­stock, und ein amerikanischer Marsch setzte ein.

Unter seinen Klängen verließ Viktor Semmel, der Gymnasiast, das Kaffeehaus. Es war gegen ein Uhr. Seine Schläfen zitterten vor Erregung. Flanierende Mädchen begegneten ihm und schauten ihm frech unter die Krempe. Auch er sah sie an, gefestigt, furchtlos. Was konnten sie ihm anhaben? Tief in seinem Herzen, wie auf der un­gemein zarten Netzhaut eines reinen, gütigen Auges, stand das blonde Bildnis seines geliebten Mädchens.

 

II.

Und wieder war Hausball beim Hofrat Marcherini. Das Foyer des eleganten Hauses am Ring war noch voll von dem Dufte der Blumen, die hübsche Ladenmädchen, zu feuchten kleinen Buketten gebunden, in großen flachen Strohkörben über die Stiegen getragen hatten.

Viktor betrat das Vorzimmer. Beflissene Mietlakaien im Frack mit weißen "Westen und Krawatten halfen ihm beim Ablegen seines Winterrockes, dieses schon stark ab­getragenen, von Sonne und Regen langer, trostloser Schulwege verschossenen Kleidungsstückes. Auch den Hut nah­men sie ihm ab. Es war sein Sonntagshut, eine steife, nicht mehr ganz moderne Melone, die im Innern die Marke einer als sehr billig bekannten Firma trug.

Hinter der großen, dunklen, von Portieren halb ver­hängten Eingangstür in den Salon wurde schon getanzt. Man hörte die brutalen Akkorde eines Klaviers zu den Sforzandonoten einer Violine. Während Viktor seine weißen, keinesfalls neuen Glacehandschuhe anzog, traten neue Gäste ins Vorzimmer. Er verbeugte sich vor den bei­den Damen, ohne sie zu kennen. Sie nickten ihm einen hochmütigen, beinahe spöttischen Gruß zu. Wenigstens schien es ihm so. Und in seiner Kehle wurde es heiß und trocken.

Dann gingen die Flügeltüren auf, und er folgte den Damen in den Salon. Es war nicht schwer, sich zwischen den tanzenden Paaren durchzuwinden und in den zweiten Salon zu gelangen, wo, umgeben von einigen älteren Da­men und Herren, die Hausfrau dem Tanze zusah.

Bei der nunmehr erfolgenden Begrüßung der neuen Gäste ging Viktor Semmel, der Gymnasiast, beinahe ganz verloren. Die Hausfrau stellte ihn zwar auch mit einer eleganten, allgemeinen Geste der Gesellschaft vor. Aber niemand nahm nähere Notiz von ihm. Nur der Hausherr, ein Vorgesetzter und Freund seines Vaters, drückte ihm gutmütig die Hand, und, indem er auf den Tanzsaal wies, sagte er gönnerhaft: „Also an die Arbeit, junger Mann — keine Müdigkeit vorschützen."

Viktor entfernte sich pflichtschuldigst zu den Tanzen­den. Aber tief im Innern war er traurig und bedrückt. Er suchte mit den Augen Margherita, die Tochter des Hauses. Er fand sie. Sie wiegte sich eben in den Armen eines schlanken Oberleutnants der Dragoner.

Wie sie so dahintanzte, war nur ein kleiner, blanker Spalt ihrer bernsteingelben Augen offen. Ihr pfirsichbraunes Antlitz hatte den Ausdruck eines träumenden Ver­lorenseins. Die schweren tizianblonden Flechten waren ihr ein wenig zu sehr in den Nacken gesunken. Aber ihre Stirn war kühl, unendlich kühl.

Der Dragoner hatte eine hohe, sehnige Gestalt. Sein Profil mit der starken Hakennase schien wie aus dunkler Bronze gegossen. Nur die Stirn bis hinauf zu dem lichten Haaransatz war weiß im Vergleich zu den anderen Par­tien seines Gesichtes. Alle seine Bewegungen waren von der wundervollen Elastizität beherrschter Kraft. Seine hohen, schlanken Beine in den schwarzen scharfgebügelten Hosen schienen sich aus sich selbst zu bewegen wie die rätselhaf­ten Federn einer unendlich edlen Maschine. Sein Mund war ein wenig zu einem Lächeln geöffnet. Manchmal be­wegten sich seine Lippen zu leisen Worten. Dann ging ein lichter Schatten über das entrückte Gesicht seiner Tän­zerin. Sie antwortete aber nicht, schmiegte sich nur in ihrem goldregenfarbigen Kleid tiefer in seinen Arm. Er führte sie sicher durch das Gewühl der Tanzenden. Seine runden, hellen Geieraugen waren überall. Wie ein Feld­herr — mehr noch: wie ein genialer Dirigent — überblickte er, um Haupteslänge alle anderen überragend, das wir­belnde Orchester der Paare, das duftende, flimmernde Chaos des Saales. Diese Orgie von Farben, trunkenen Be­wegungen, Ehrgeiz, Verliebtheit schienen seine Blicke zu kommandieren, zu teilen, wo er einen Weg brauchte, bis sich die Koda des Walzers zur letzten Vergewaltigung des Schlusses gesteigert hatte.

Erst jetzt konnte Viktor Margherita, die am Arm des Dragoners promenierte, begrüßen. Sie reichte ihm im Vor­beigehen die Hand, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben. Ihr Gesicht hatte den verwunderten Aus­druck der Worte: „Was machen Sie hier?", aber sie sagte es nicht.

Doch er fühlte diese Frage auf sich brennen. Er hätte sie nicht zu beantworten gewußt, obwohl er in seiner Brust­tasche eine gedruckte Einladungskarte hatte, in die von Margheritas eigener Hand sein Name eingesetzt war. Und um dieser lieben Hand willen war er gekommen — und um den Vater nicht zu kränken, der ihm sein einschichtiges Wesen immer vorwarf und als die künftige Ursache eines ungeliebten, erfolglosen Lebens prophezeite. Sein Vater :; hielt etwas von einflußreichen Verbindungen. Er bezeich­nete sie als das einzige Erbe, das er seinem Sohne hinter­lassen könne. Aber gerade dagegen hatte Viktor Semmel eine tiefinnere Abneigung. Die Verbindungen seiner Eltern mit anderen Familien hatten etwas Einseitiges. Sie schick­ten ihren Sohn in alle möglichen Häuser zu Gast, aber luden niemals zu sich ein. Viktor wußte zwar warum: seine Eltern hatten nicht die Mittel dazu und nicht die entsprechende "Wohnung. Sie hatten nicht einmal die Mit­tel — oder fehlte ihnen das Verständnis? —, ihn für die Gesellschaften und Kreise, die er aufsuchen mußte, äußer­lich genügend auszustatten. Wie eine allen Augen sichtbare Beschämung empfand er die lächerliche Armseligkeit und das Provisorische seines Aufzuges.

Das hatte er noch nie so empfunden wie heute. Die früheren Unterhaltungen beim Hofrat Marcherini waren doch mehr Kinderbälle gewesen. Aber heute war es ein rentabler Ball im großen Stil.

Margherita war siebzehn geworden. Sie kam eben in das heiratsfähige Alter. Und er — in gleichem Alter wie sie — war ein Schuljunge, der morgen von acht bis zwölf auf der Schulbank sitzen und vielleicht Fünfer bekommen wird.

Ihm war, als wäre die Furcht vor der Zensur, die über­morgen stattfinden sollte, allen sichtbar an seine Stirn ge­schrieben. Auf diese Stirn, die er brennen fühlte unter den roten Unreinigkeiten seiner Haut, während alle die ande­ren jungen Leute, zumeist Studenten, Offiziere und Beamte, so klare, fleckenlose Stirnen und Schläfen hatten. Und alle waren sie tadellos angezogen und hatten elegante Bewegungen und lebendig-lustige Gesichter, während er, der seinen ersten Frack erst zur Matura bekommen sollte, einen schwarzen Jakettanzug trug und dazu die Ballweste seines Vaters, die ihm die Mutter — diesmal die Köchin — am Rücken einzunähen pflegte, damit sie ihm nicht um die Hüfte schlottere.

Und in diesem grausam lächerlichen Aufzuge mit den ungeschickten Bewegungen eines armen Jungen, der nur zweimal im Jahre blanke Parkette betritt und auf einer Tafel mit Blumen speist, sollte er den Wettkampf auf­nehmen mit all diesen Gewandten, Erwachsenen, Routi­nierten, vor denen er eine um so größere Hochachtung empfand, je mehr er sie haßte und je mehr er wähnte, daß jeder von all diesen das Zeug in sich hatte, seiner heilig geliebten Margherita an diesem Abend und darüber hin­aus mehr zu sein als er — Viktor Semmel (welch ein beleidigender Name unter all den adeligen und klingen­den der Gesellschaft!) — er, Viktor Semmel, der Gym­nasiast.

 

III.

Die Unterhaltung ging ihrem Ende zu. Die meisten jun­gen Herren und einige intime Freundinnen Margheritas waren geblieben. Margherita selbst schien unermüdlich. Während die übrigen in den Sitzgruppen des Salons zer­streut waren, wiegte sie sich inmitten des Salons mit dem schlanken Dragoner im Tanz. Nur der Klavierspieler spielte die Walzer, während der Violinspieler im Vor­zimmer saß, eine dicke Havanna rauchte und eine Tasse schwarzen Kaffees nach der ändern hinter seine verdrückte Hemdbrust goß. Seine Geige lag auf dem Klavier.

Der Klavierspieler, welcher auch schon müde war, spielte nur leise -und war mehr im Anschauen des wunderbar graziösen Tanzes der beiden hohen, schlanken Men­schen versunken, die sich in unerschöpflicher Hingebung seinen Tönen überließen.

Viktor Semmel, der Gymnasiast, stand einsam in seiner Ecke und sah die etwas müde Grazie ihrer Bewegungen, sah wieder die halbgeschlossenen Augen und die kühle Stirn aus Alabaster. Und sah jetzt, da sie frei und allein mit dem Offizier über das Parkett schwebte, die wunder­voll edle Fesselung ihrer Füße, die nur mit den Zehen den Boden berührten. Und sah aus den kleinen Lackschuhen die Beine in den roten Seidenstrümpfen wie zwei schlanke, blutige Flammen zu dem süßen Geheimnis ihres Leibes aufsteigen...

Viktor Semmel, der Gymnasiast, der große, unbehol­fene Junge mit dem Aussatze der Pubertät auf der Kinderstirn und an den Schläfen, war reinen Herzens, aber er kannte die glühende Sinnlichkeit der Frömmigkeit, die inbrünstigen Verzückungen des Gebetes zur Jung­frau. Er lag oft stundenlang auf den Knien vor dem Gnadenbild der kleinen Kapelle in der Kirche, die seiner Schule benachbart war, und betete, betete mit den heißen Tränen seines beklommenen Alters — und küßte die gipsernen Füße der bemalten Madonna und schrak zusam­men, wenn er sich belauscht glaubte von einem anderen Beter.

Darum entkleidete er jetzt in seinen Gedanken die Füße seiner heilig Geliebten. Da wurden die schlanken. Flammen weiß vor seinen Augen. Und dieses Weiß sank aus dem Dämmer des goldregenfarbigen Kleides nieder auf die spie­gelnden Lackschuhe und fiel wie Blüten auf sie, daß sie zu Gebilden wurden von unendlich zartem, berauschendem Leben, zwei hingewiegte Wölkchen auf einem Teppich von Azur, zwei weiße "Wunder, kaum die Erde berührend, an unsichtbaren Stufen aufwärtsschwebend, wie die Füße der heiligen Jungfrau auf dem Bilde der Himmelfahrt.

Da nahm Viktor Semmel, der Gymnasiast, die Geige des Musikanten von dem Klavier und ließ ihre Töne wie dunkle Gondeln treiben auf den Wogen des Walzers. Er konnte das Instrument behandeln. Darum rief man ihm auch „bravo!" zu von allen Seiten, und er hatte die Genug­tuung zu sehen, daß sich der Tanz der beiden belebte. Und Margherita warf ihm über die Schultern ihres Tän­zers hinweg einen beinahe dankbaren Blick zu.

Als er geendigt hatte, drang man in ihn, noch etwas zu spielen. Er wollte nicht. Margherita selbst und der Ober­leutnant kamen auf 'ihn zu und versicherten ihm, daß sie noch niemals so gut zu einer Musik getanzt hätten.

Der Oberleutnant, der es nicht der Mühe wert gefunden hatte, sich dem unbekannten jungen Manne vorzustellen, war besonders begeistert und liebenswürdig und drückte Viktor selbst Geige und Bogen in die Hand.

Unschlüssig und beschämt stand der junge Mensch da. Da kam ihm blitzschnell ein Gedanke. Er fragte den Klavierspieler, der ein junger, aber armer Konservatorist war, leise etwas. Dieser nickte.

Und sie spielten zusammen das Ave Maria von Schubert.

„Walzer! — Walzer!" rief der Oberleutnant, der zum Tanze bereits mit Margherita Posto gefaßt hatte. „Hören Sie doch auf mit dem Trauermarsch", rief er lachend und bewegte seine schlanken Beine wie ein feuriges Pferd an der Halfterkette.

„Walzer! — Walzer!" riefen nun ein paar andere Her­ren, und die jungen Mädchen in den Sitzgruppen lachten über die komische Verzweiflung des Dragoners, der nach den Klängen des Ave Maria zu tanzen versuchte. Es ge­lang ihm nicht. Margherita löste sich aus seinem Arme und sagte laut und schnippisch: „Wir haben übrigens heute genug getanzt." Der Oberleutnant machte seine gro­tesken Versuche allein weiter. Alles lachte.

Margherita ließ sich in einen tiefen Fauteuil fallen — den Körper weit zurückgelehnt und die übereinanderge-kreuzten Beine vor sich hinstreckend.

„Schluß, Schluß!" riefen einige Stimmen. :

Aber Viktor Semmel, der Gymnasiast, spielte weiter­
und hatte seine Kinderaugen unverwandt auf Margherita
gerichtet.        . . "

Da kam jemand auf den Gedanken, das elektrische Licht abzuschalten und die Rouleaux aufzuziehen.

Wie ein Genieblitz wurde dieser Vorschlag begrüßt. In dem allgemeinen Hallo gingen die letzten, zarten Töne des Gebetes unter.

Viktor legte die Geige weg.

Margherita rief ihm aus ihrem Fauteuil herüber zu: „Sie sind recht boshaft und ungefällig, Herr Semmel."

Herr Semmel —? — Es war das erstemal, daß sie ihnc „Sie" und nicht „Du" und nicht bei seinem Vornamen nannte. Ohne Bewußtsein starrte er sie an.

Da strömte auf einmal das graue, trübe Licht des Mor­gens in den Salon. "Wie eine trübe "Woge von seichtem Wasser stürzte es herein und lag, einer schmutzigen Lache gleich, auf dem Parkettboden — und auf einmal sanken aus allen Ecken und vom Plafond herab graue Schatten, als wäre eine bunte Theaterdekoration zusammengefallen und zeigte jetzt die fledermausgrauen Rückwände der Kulissen. Das Leuchten der Plüschmöbel erstarrte in ein unsauberes, anrüchiges Rot. Der Luster hing wie ein gro­tesker ausgestopfter Vogel von der Decke.

Die Gläser, die auf dem kleinen Tischchen herumstan­den, schienen besudelt von unreinen Flüssigkeiten, die Krumen von Torten und Sandwiches glichen unappetit­lichen Resten.

Aber das Licht, das trübe Licht des Morgens, fiel auch auf die Gesichter der Menschen, glitt an den zerrauften Frisuren der Mädchen hinab über ihre grünfahlen Wangen, nistete sich in den tiefen Schatten unter ihren über­nächtigen Augen ein, zeichnete ihnen tiefe Furchen um die Mundwinkel und fiel auf das aschgraue Dekollete ihrer Brust. Und das Licht huschte an ihren Knien herunter, verfing sich in den abgerissenen Spitzenrändern der Klei­der und setzte sich mit fatalem Grinsen auf die zertanzten Atlasschuhe mit ihren abgewetzten Spitzen und vertrete­nen Stöckeln — und auf die Lackschuhe — Margheritas — mit den Staubspuren — stundenlangen ...

Eine plötzliche Erinnerung schnellte in Viktor empor. Seine Augen gingen von einem Mädchen zum anderen. Dann blieben sie an Margherita haften.

Der Oberleutnant stand hinter ihrem Fauteuil und sprach, über ihre Schultern redend, leise zu ihr. Mar­gherita beachtete Viktors Blick nicht, sie lachte und lachte mit dem unbeherrschten Lachen der Übermüdung, mit der plötzlichen Zügellosigkeit der Erschlaffung. Etwas heim­lich Freches, Unreines — Betrunkenes hatte dieses Lachen um diese Stunde. Etwas Wissendes um ein verdächtiges Geheimnis. Irgendein intimes Verständnis schien daraus zu klingen, eine unkeusche, tierische Verliebtheit.

Da verließ Viktor Semmel, der Gymnasiast, ohne daß es jemand bemerken konnte, den Salon, zog sich draußen im dunklen Vorzimmer seinen Winterrock an, verschossen von Regen und Sonne langer, trostloser Schulwege, und setzte seine Sonntagsmelone auf, die innen die Marke einer bekannten billigen Firma trug.

Dann stürmte er hinaus in den Morgen.

Auf der Straße war es unendlich rein und erfrischend. Bäcker mit Körben warmduftender Semmeln, Zeitungs­austrägerinnen und Milchweiber mit klirrenden Kannen eilten an ihm vorüber.

Viktor Semmel, der Gymnasiast, formte einen bösen Vergleich auf der Zunge, aber er vermochte ihn nicht aus­zusprechen.

Er murmelte nur immer vor sich hin: „Wie die .... wie die... wie die ..." Und weinte.