DER FALL ZEIDLER Anton Wildgans
(1881-1932)
Der Fall Zeidler
(„Neue Freie Presse", 15. Februar 1925; Erstveröffentlichung in „Anton Wildgans – Ein Leben in Briefen“ Band 3, herausgegeben von Lilly Wildgans 1947)
Die Mitteilung, daß der Kindesmörder Karl Zeidler mit der Hauptgestalt meines Gerichtsstückes „In Ewigkeit Amen" in Zusammenhang stehe, entspricht den Tatsachen. Es war vor sechzehn Jahren und ich damals als Richteramtskandidat der sogenannten Blutgruppe des Wiener Straflandesgerichtes zugeteilt, als Zeidler eines Tages unter der Beschuldigung des versuchten Mordes an seiner Quartiergeberin dem Untersuchungsrichter, dessen Schriftführer ich war, aus der Haft vorgeführt wurde. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir, und die Personsbeschreibung, die ich in meinem Stück von dem dortigen Beschuldigten Anton Gschmeidler gab, entspricht ziemlich genau seinem damaligen Aussehen. Die näheren Begleitumstände der Tat und ihre Motive waren meinem Gedächtnis längst entschwunden, als ich von seinen jetzigen Rückfälligkeiten in den Zeitungen las, und sie waren mir schon damals verblaßt, als ich drei Jahre nach der Begegnung mit ihm das Stück schrieb. Aber der allgemeine Eindruck von ihm war geblieben, und eines steht fest: von den vielen Gestalten, die während meiner Dienstzeit vor mir emporgetaucht waren, hatte mir nur dieser eine Mensch ein so starkes inneres Erlebnis bedeutet, daß es mich zwang, menschliches Irren und Leiden, die Rätselhaftigkeit verbrecherischen Tuns und das Problematische aller Methoden menschlicher Urteilsfindung an seinem Falle aufzuzeigen. Heute sind Geschehnis und Gestalten des dichterischen Nachbildes - wie ein .Vorhang mit bunten Bildern eigenlebendig zwischen damaliger Wirklichkeit und heutiger Erinnerung aufgerollt. Ich könnte im einzelnen nicht sagen, welche Tatsächlichkeiten ich in das Drama hinübergenommen. Für mich hatte der leibhaftige Karl Zeidler zu sein aufgehört, war ganz und gar in die Gestalt des Anton Gschmeidler aufgegangen. Da meldete sich der immer noch wirklich Vorhandene mit einer furchtbaren Tat zu "Wort. Damals schon ein Alternder, ist er heute ein Greis, hat neben seinem literarischen Doppelgänger sein elendes, armseliges Pfründnerdasein von damals weitergefristet, und wieder hat ihn dieses Leben eines Bettgehers und Dienstboten bei fremden Leuten zu einem Verbrechen geführt, noch unverständlicher, noch unverhältniswürdiger zu seinem äußeren Anlaß als das damalige. Und doch ist es scheinbar die nämliche Tat, zu der er immer wieder zurückkehrt und die ihn immer wieder zwingt, sie zu begehen: mit fünfundzwanzig Jahren, als einen Fünfziger und als einen Greis von über siebzig. Für die Betroffenen ein furchtbares, für mich überdies ein gespenstiges Erlebnis.
Daß der Karl Zeidler des Lebens mit dem Anton Gschmeidler des Stückes nicht „identisch" ist, bedarf kaum der Betonung. Die künstlerische Gestaltung bietet kein detailtreues Abbild der Wirklichkeit, sondern Symbole. Der den Menschen von allen Zufälligkeiten und Einmaligkeiten seiner Erscheinungsform ablösende Blick des Dichters ist immer nur gleichsam auf die platonische Idee eines Individuums gerichtet. So vermag er auch die Idee der Güte, der Wahrhaftigkeit, der Ehre und Menschlichkeit an einem Ausgestoßenen der Gesellschaft, die Idee des Verbrecherischen und Schurkischen hinwiederum an Individuen zu erleben, denen wir in der Region der gerichtlichen Unbescholtenheit begegnen. Es ist oft, als wäre einem sonst durchaus anständigen und ehrenhaften Menschen irgendein Dunkles eingebaut, das ihn bisweilen und urplötzlich zu Handlungen zwingt, deren Widersprechendes ihm verhängt zu sein scheint, wie einem anderen ein für ihn typisches Schicksal oder eine Begabung geschenkt ist. Wofür sind wir letzten Endes verantwortlich? Was ist Verdienst, v/as der Mangel an Verdienst und was gar die Schuld? Und kann, was heute Verdienst ist, nicht morgen zur Schuld geworden sein und umgekehrt? Hier liegt die unentwirrbare Rätselfrage nach der Berechtigung alles Urteilens, Verurteilens und Richtens, sei es Verdammen, sei es Freisprechen, ja, sei es sogar Belohnen.
Die meisten geltenden Strafgesetze setzen das Vorhandensein eines „bösen Vorsatzes" voraus. Die Erfahrungen, die ich aus Begegnungen und Verhören mit ungezählten sogenannten „Verbrechern" gesammelt, haben mir immer das Gefühl eingegeben, daß es sich bei dieser Annahme eines bösen Vorsatzes um den Rest eines alten Teufelaberglaubens handelte. Das Böse hat den Bösen abgelöst. Wir nennen eine von der Rechtsordnung zum Schütze der Gesellschaft schwer verpönte Tat ein Verbrechen, eine böse Tat. Aber ist das objektiv Böse auch immer das subjektiv Böse? Und selbst wenn eine Tat mit wirklichem und nachweisbarem Vorsatz begangen ward, wer kann sagen, daß sie auf jenen Handlungskomplex gerichtet war, der unter den Tatbestand dieses oder jenes Paragraphen fällt? Ist es vielleicht nicht so, daß die Menschen im allgemeinen weder gut noch böse handeln, sondern bei ihrem Tun von ihren Instinkten und Fähigkeiten, von ihren Begierden und Abneigungen geleitet werden, und daß dann dieses verschiedentliche Tun nachträglich Namen und Attribute nach Umständen und Anschauungen bekommt, die überdies nach Räumen und Zeiten wechseln?! Es will mich Laien bedünken, als wenn künftige Strafgesetze zu anderen Kriterien des Verbrechens kommen müßten und zu anderen Strafen.
Die immer mehr und sorgfältiger geübte psychologische Analyse einer vollbrachten Übeltat bedeutet gewiß einen Fortschritt in dem Verhältnis der Gesellschaft zum Verbrecher und ebnet den Weg zu größerer Gerechtigkeit gegenüber diesem. Aber sie kommt post festum. Sie vermag zwar zu erklären, das Urteil zu vermenschlichen, die Strafe zu mildern. Aber ist sie auch ein Fortschritt zugunsten der Gesellschaft? Sie könnte ein solcher sein, wenn es der staatlichen Gerichtsbarkeit vergönnt wäre, aus ihrem bereicherten Wissen über das Individuelle der judiziellen Nachbehandlung, das heißt dessen, was wir heute Strafe nennen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. So aber wandern heute noch Erkannte und Unbekannte dieselbe grausige Straße der Vergeltung, der Abschreckung und der vermeintlichen Besserung.
Um auf den „bösen Vorsatz" im besonderen zurückzukommen: Zeidler, der wegen Raubmordes ein Vierteljahrhundert in der Strafanstalt verbrachte, der, kaum begnadigt, wieder wegen Mordversuches in Untersuchung gezogen wurde, dieser selbe Zeidler soll Kinderfreund gewesen sein und die kleine Grete Zöhrer liebgehabt haben. Man kann sich einen Augenblick der rührenden Vorstellung überlassen, wie dieser alte Mann an dem Kinde Mutterstelle vertrat, es wusch, ankleidete und ihm das Frühstück verabreichte. Sind dies nicht seltsam zarte Beschäftigungen für die Hände eines alten Raubmörders? Dann ging er mit dem Kinde durch die ganze große Stadt hinüber zur Donau, trug das Ermüdete streckenweise auf seinen Armen, ließ es dann in der Sonne spielen und hütete zwei Stunden seinen Schlaf. Und einige Atemzüge später ließ der selbe Greis das selbe Kind in den Strom fallen. Warum? Aus Rache? In Sinnesverwirrung? Aus Hang zum Töten? Aus bösem Vorsatz? Wie ist ein Verhältnis herzustellen zwischen dem Unrecht, das ihm etwa selbst geschehen war, und dem Ungeheuerlichen dieser Vergeltung?
Daß dieses Unbegreifliche, dieses Mißverhältnis schon bei der Tat vor sechzehn Jahren vorhanden war, beweist als Kronzeuge Anton Gschmeidler, der Beschuldigte meines Dramas. Die beiden sind, um es nochmals zu sagen, nicht identisch. Ebensowenig als die Figur des Untersuchungsrichters mit dem Funktionär, der Zeidler damals verhörte, ebensowenig als der Rechtspraktikant Dr. Samuel Zwirn mit dem Schriftführer meines Namens. Und dennoch schlägt in meinem Herzen etwas von dem, was in dem Herzen Dr. Zwirns schlägt. Und etwas ist in allem Verhören und Untersuchen, was im Verhören und Untersuchen meiner Richterfigur ist. Und so ist vielleicht auch in dem Herzen Karl Zeidlers etwas, was in dem Herzen Anton Gschmeidlers ist. Es wäre wohl eine interessante Aufgabe für eine Literaturkritik und eine Kriminalpsychologie hohen Stils, an der Hand der Akten aus dem Jahre 1909 und an der Hand meines Stückes zu untersuchen, wie sich Wirklichkeit in dichterische Gestalt umsetzt und wie ein bestimmter Verbrechensfall sich in einer Betrachtung ausnimmt, die nicht von dem Zwange, ein Untersuchungsergebnis zu zeitigen und eine Urteils-~ Vorbereitung zu bilden, diktiert ist. Und wenn sich dabei herausstellte, daß dichterische Gestaltung auch nur in diesem einzigen Fall die höhere Wahrheit über eine Wirklichkeit bedeuten kann, dann wäre nicht wenig gewonnen für die Erkenntnis literarischen Schaffensprozesses und sehr viel für — die Menschlichkeit. Denn was immer das Verfahren in dem jüngsten Fall Zeidler ergeben sollte, dieses, was ich zum Schlüsse zusammenfassen will, verlockt, es zu bedenken: vielleicht ist es wirklich schon jetzt notwendig, daß unseren Strafgesetzen der Teufel des „bösen Vorsatzes" ausgetrieben werde. Vielleicht finden wir schon heute mit diesem Terminus nicht mehr das Auskommen. Und wie, wenn wir neue Kriterien für den Begriff des Verbrechens, neue Methoden suchten für das, was wir heute noch Strafe nennen? Machen wir doch unseren Richterblick frei von allen Schleiern und Dünsten einer diesseitigen und jenseitigen Moral und reden wir fürder nicht von Schuld und Sühne, sondern einfach nur von dem, was wir im Namen der Gesellschaft dulden können und was nicht. Denn, um nochmals zu fragen: was ist Schuld? In tausend und aber tausend Handlungen ist das, was wir so nennen, und es findet seinen Richter und Radier nicht. Und jenen einen oder anderen unter Unzähligen liefert der Zufall der Ahndung aus. Den Einfältigeren, den Schwächeren „in Sünden" ereilt sie, der Gewitzte, der Kühnere bleibt verschont. Schon dies allein bedeutet Verzweiflung an aller „irdischen Gerechtigkeit". Und was ist alle Sühne, wenn fünfundzwanzigjährige Zuchthausstrafe, wenn das Wunder einer Begnadigung einen Menschen nicht verhindern kann, die Tat, die er als Jüngling begangen, als Greis an einem unschuldigen Kinde furchtbar zu wiederholen?
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